Das Haus an der Klippe
jetzt waren sie an der Eingangstür angelangt. Impulsiv küßte Ellie die alte Frau auf die Wange, eine Freiheit, die sie sich noch nie genommen hatte. Dafür erntete sie wieder einen Laserblick, nur daß diesmal ein Lächeln über Feenies Gesicht huschte.
Als Feenie durch die Einfahrt radelte, blickte sie sich um und rief Ellie dann über die Schulter zu: »Anscheinend ist unsere Spionin verschwunden. Sobald sie enttarnt sind, werden sie rasch ausgetauscht. Der Geheimdienst ist eine Hydra, meine Liebe, eine wahrhafte Hydra.«
Dann warf sie einem Nachbarn der Pascoes, der seinen Hund spazieren führte, einen zornigen Blick zu, als hielte sie beide für Undercover-Agenten einer Sondereinheit, und fuhr in Schlangenlinien die Straße hinunter.
Mit einem erleichterten Aufatmen schloß Ellie die Tür und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Pascoe einen großen Scotch einschenkte, den sie in einem Zug leerte.
»So schlimm?« fragte er.
»Ich bin eine Heuchlerin«, sagte sie. »Beim ersten Anzeichen von Gefahr kann mir der Rest der Welt gestohlen bleiben.«
»Der Rest der Welt möchte, daß dir nichts passiert«, meinte Pascoe. »Denn wer sollte sie sonst retten?«
»Bin ich wirklich außer Gefahr, Peter? Ich habe darüber nachgedacht. Es spricht viel dafür, daß irgend jemand dir etwas anhaben will und sich deshalb an deiner Familie vergreift, stimmt’s? Aber machen die das, um Druck auf dich auszuüben, damit du tust, was sie wollen? Oder einfach nur, um dich zu treffen? Mit anderen Worten: Einschüchterung oder Wahnsinn. Ich weiß, was mir lieber ist.«
»Vermutlich ersteres«, sagte Pascoe. »In diesem Fall werden sie sich nach einem fehlgeschlagenen Versuch zurückziehen.«
»Aber das haben sie nicht getan, oder?« erwiderte Ellie. »Sie waren heute noch da, Daphnes Nase ist der Beweis dafür.«
»Wenn sie es nur darauf abgesehen hätten, mir weh zu tun, indem sie dir weh tun, dann hatten sie ja schon ihre Chance, als du ihnen die Tür aufgemacht hast, oder?« hielt ihr Pascoe entgegen.
»Einen Eimer Säure ins Gesicht, meinst du? Das macht mir wirklich Mut.«
»Aber sie haben sie nicht genutzt«, beharrte Pascoe. »Viel wahrscheinlicher ist also, daß irgendein Idiot ein bißchen Druck ausüben möchte, um sich selbst oder alle, die ihm lieb und teuer sind, vor dem Knast zu retten. Natürlich gibt es noch eine dritte Möglichkeit …«
»Die versteckte Kamera?«
schlug sie vor.
»Nein. Vielleicht hat es gar nichts mit meiner Arbeit zu tun. Möglicherweise interessiert sich da jemand für dich persönlich.«
Er sagte das nur, um sie abzulenken, und es funktionierte.
Sie sah ihn mit gespieltem Erstaunen an.
»Meine Wenigkeit? Ich ganz persönlich wichtig? Das muß wohl ein Irrtum sein.«
»Man kann nie wissen. Übrigens stammt die Idee von Constable Novello.«
»Die kleine doofe Shirley Temple? Dann muß es ja stimmen. Mädchen, die so kurze Röcke tragen, daß für die Belüftung des Stammhirns gesorgt ist, können sich nicht irren, oder?«
»Schade, daß du keine Jüdin bist«, meinte er. »Dann könntest du auch noch antisemitisch werden.«
»Spar dir deine klugen Bemerkungen. Dafür hab ich jetzt keinen Nerv. Wo ist Rosie?«
»Oben in ihrem Bett. Aber sie wird kaum einschlafen, wenn du nicht bald dein Versprechen erfüllst und mit ihr Karten spielst.«
»Typisch. Von wem hat sie das nur?«
Pascoe grinste.
»Tja, ihr Lieblingsspiel heißt Black Bitch«, meinte er.
»Warte nur, das wirst du mir büßen«, rief ihm Ellie zu, als sie zur Treppe ging.
»Das hoffe ich doch«, erwiderte Pascoe.
Zwölf
Doppelgänger
E llie Pascoe beugte sich aus dem offenen Fenster und rief. Die Frau unten blickte überrascht auf und ließ die Autoschlüssel fallen. Ellie wiederum war so überrascht, daß sie die Schlüssel fallen ließ, die sie in der Hand hielt.
Ellie drehte sich im Bett um. Aber kurze Zeit später stand sie wieder am offenen Fenster, beugte sich hinaus, und die Frau unten blickte überrascht auf und ließ die Autoschlüssel fallen, und auch Ellie ließ ihre Schlüssel fallen.
Als sie zum dritten Mal aus diesem Traum erwachte, stand sie tatsächlich auf. Peter schlief tief und sehr ruhig, und die Entspannung tilgte die Spuren des Alters aus seinem Gesicht, so daß er aussah wie die überlebensgroße Skulptur eines Kindes – oder eines allzu früh verstorbenen Jünglings.
Sie ging in Rosies Zimmer. Ihre Tochter hatte die Decke abgestrampelt und lag wie ein gestrandetes Seepferdchen auf der
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