Das Haus an der Klippe
sandfarbenen Matratze.
Ellie deckte sie zu. Von der Hitze des Tages war jetzt nichts mehr zu spüren. Oder der eisige Schauer ihres Traums steckte ihr noch in den Knochen.
An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Im Schlafzimmer wartete nur eins auf sie: das Gefühl, auf einem sturmgepeitschten Meer zu treiben, die Luft erfüllt vom Kreischen raubgieriger Vögel und die Gesichter ihrer ertrunkenen Lieben, die zu ihr emporstarrten.
Sie ging in die Abstellkammer, der sie die Bezeichnung Arbeitszimmer verweigerte. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie jeden, der sich einer Beziehung zu einem Kasten voller Elektronik brüstete, als Trottel ausgelacht, aber jetzt begrüßte ihr Laptop sie wie ein Freund.
Zeit für ihre Schmusedecke.
Sie schaltete ihn an, holte ihre Geschichte auf den Bildschirm und suchte in Kapitel 2 die Stelle, an der Daphne sie unterbrochen hatte.
Er spannte seine breiten Schultern an, holte tief Luft, beugte sich nach vorn, und mit einem Ruck riß er den Stoffstreifen entzwei, mit dem seine Hände gefesselt waren.
Die Männer ringsum hielten vor Bewunderung den Atem an, zückten aber im selben Moment die Waffen. Der Grieche streckte die Arme, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen, und lächelte ihnen wohlwollend zu. Dann nahm er den Sack ab, den er immer noch um den Hals trug, und ließ ihn ebenso wie die zerlumpten Reste seines Gewands auf den Boden fallen. Jetzt stand er nackt vor ihnen, und sie betrachteten seinen Körper, der von Furchen und Kratern übersät war wie der Mond, der ihn beleuchtete. Hier war die Geschichte eines von Gewalt geprägten Lebens verewigt, Narben von Stichwunden, Narben von Peitschenhieben, Narben vom Biß wilder Tiere und Narben von Knüppelhieben. Der Anblick gebot Ehrfurcht, weckte aber auch ein Gefühl der Bedrohung. Dann stellte sich der Grieche breitbeinig an ein kleines Feuer und begann mit einem tiefen, lustvollen Grunzen sein Geschlecht trockenzureiben. Eine der jungen Frauen legte die Hand auf den Mund und kicherte, und sofort wurde er wieder ein dicker, alter schiffbrüchiger Grieche.
Er griff nach einem wollenen Gewand, das sie über dem Arm trug, und zog es über.
»Danke, Kleine«, sagte er. »Wie wär’s mit ’ner Muschel?«
Er schüttelte die restlichen Schalentiere aus den abgelegten Lumpen.
»Man kann sie roh essen, aber besser sind sie gebraten mit einem Tröpfchen Essig. Wenn ich nur dran denke, krieg ich Hunger.«
Und ohne weitere Umstände nahm er dem zweiten Mädchen den dampfenden Teller aus der Hand, hockte sich ans Feuer und begann zu essen.
Der Fürst sah ihm eine Weile zu, dann sagte er: »Achates, jetzt da sich der Sturm gelegt hat, könnten die Freunde unseres Gastes um sein Wohl besorgt sein und nach ihm suchen. Da scheint es mir angebracht, die Wachen zu verdoppeln.«
»Nicht nötig«, meinte der Grieche mit vollem Mund. »Ich bin ein einsamer Wanderer.«
Aber Achates entfernte sich und gab seinen Männern die nötigen Anweisungen.
Der große Bronzeteller war bald leer, und auf ein Nicken des Fürsten nahm ihn die Dienerin und füllte ihn erneut.
»Für einen Schluck würde ich meine Großmutter an einen einbeinigen Seemann verkaufen«, sagte der Grieche.
Ein weiteres Nicken. Man brachte einen Krug Wein und einen Becher herbei, den der Grieche nicht beachtete. Er griff nach dem Krug, goß ein kleines (ein sehr kleines) Trankopfer auf den Boden, hob das Gefäß an die Lippen und ließ den xanthischen Linn bis auf den letzten Tropfen durch seine Kehle rinnen.
Ellie hielt inne und überlegte.
Xanthischen Linn.
Ließ sich etwas derart Seltsames rechtfertigen? Man konnte darauf verweisen, daß es ein griechisches Wort war, denn
xanthos
hieß gelb. Xanthos war bei Homer außerdem ein zweiter Name für den Stromgott Skamander, gegen den Achilles kämpfte und unterlegen wäre, wenn ihm nicht der Feuergott Hephaistos zu Hilfe geeilt wäre. Aber ein Krittler hätte einwenden können, daß das Wort sich nicht recht zum schottischen
Linn,
dem Wasserfall, fügte. Als komischer Euphemismus war solcher Schwulst in Ordnung, und
xanthischer Linn
hätte als Umschreibung für Pisse manchem Leser ein Lächeln entlockt, aber klang der Ausdruck an dieser Stelle nicht nur eigenwillig affektiert? Und gab es damals überhaupt weißen und roten Wein? Rotwein erschien ihr wahrscheinlicher, doch sie wußte nicht, warum. Vielleicht weil er rustikaler, ursprünglicher wirkte, obwohl man das in Bordeaux bestimmt bestritten hätte. Aber
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