Das Haus an der Klippe
erwarten, daß sie uns von einem Baum aus bewacht und die Nacht in ihrem Auto verbringt, oder?« entgegnete Daphne. »Fahren kann sie, das muß man ihr lassen.«
Diese Bemerkung fiel bei einem Blick in den Rückspiegel. Daphne hatte, wie sie selbst meinte, einen forschen Fahrstil, den ihre Freunde jedoch rücksichtslos nannten, aber Shirley Novellos Fiat Uno war auf den kurvenreichen, schmalen Straßen, die nach Axness hinausführten, keinen Augenblick zurückgefallen.
Ellie sah sich um und lächelte Rosie zu, die neben dem auf einer Reisedecke schlafenden Tig saß. Als ihr Blick wieder auf den Uno fiel, erstarb ihr Lächeln.
Sie wußte selbst nicht, warum sie solche Aversionen gegen Shirley Novello hegte. Oder vielleicht doch, und sie wollte es nur nicht wahrhaben. Eifersucht spielte dabei jedenfalls keine Rolle. Falls Peter auf sie abfuhr, hatte er es nie gezeigt, was eine neurotisch eifersüchtige Ehepartnerin vielleicht gerade als untrügliches Anzeichen gedeutet hätte. Ellie war selbstverständlich weder neurotisch noch eifersüchtig, aber manchmal überlegte sie, ob es nicht Schlimmeres gab, das heißt, schlimmere Gründe für persönliche Abneigung. Ellie hatte Novello erst kürzlich kennengelernt, als sie auf der Polizeiwache erschienen war, um sich für all die Genesungswünsche und Geschenke zu bedanken, die man ihr hatte zukommen lassen, als Rosie krank war. Pascoe hatte ihr erzählt, daß Shirley in ihrer Pfarrkirche eine Kerze für Rosie angezündet hatte. Ellie hoffte zwar, sie würde den Mut aufbringen, zu ihrem Mangel an Glauben zu stehen und in der Todesstunde nicht doch noch zu Gott überlaufen, doch hinsichtlich ihrer Tochter hegte sie keine derartigen Vorbehalte, weshalb sie sich bei der jungen Frau herzlich bedankt hatte. Darin hatte sie, wie es ihrer Wesensart entsprach, versucht, die förmliche Beziehung zwischen der Frau des Chefs und der rangniederen Polizistin aufzulockern, und vorgeschlagen, sich beim Vornamen zu nennen. Da sah sie, wie sich Shirley Novellos Blick veränderte, und für den Rest des Besuchs hatte die junge Frau sie überhaupt nicht mehr namentlich angesprochen. Bei ihrer nächsten Begegnung war sie wieder Mrs. Pascoe.
Nun wäre es völlig in Ordnung gewesen, daß eine ehrgeizige junge Polizistin den Eindruck vermeiden wollte, es ginge ihr darum, Freundschaft mit der Frau des Chefs für ihre Karriere zu nutzen. Solche Vorsicht hätte Ellie verstehen, ja sogar gutheißen können. Karriere war für Frauen eben doch mühseliger als für Männer. Und Polizistinnen mußten eine ganze Menge in Kauf nehmen, um eines Tages mit etwas Glück und viel Umsicht die Lorbeeren ihrer Mühen zu ernten.
Aber Ellie wurde das Gefühl nicht los, daß mehr, oder besser gesagt
weniger
dahintersteckte. Denn sie hegte den Verdacht, daß die Regung, die sie bei Novello beobachtet hatte, jenes halbverächtliche Mitleid war, das sie selbst in jüngeren Jahren erlebt hatte, wenn sie einer älteren mittelständischen Geschlechtsgenossin begegnet war, die ihr überstürzt die Freundschaft antrug. Es war weniger eine Abwehr gegen eine gönnerhafte Haltung als vielmehr gegen die Unterstellung einer alten Schachtel, ihr festgelegtes und saturiertes Dasein sei der selbstbestimmten, emanzipierten Existenz der neuen Frauengeneration ebenbürtig oder gar überlegen.
»Mein Gott, ich bin doch nicht viel mehr als zehn Jahre älter als sie!«
»Wie bitte?« fragte Daphne.
Ellie stellte fest, daß sie laut gedacht hatte.
»Ich meinte nur, daß sie älter aussieht, findest du nicht?«
Daphne überlegte und erwiderte dann: »Nein, ich würde sagen …«
»Was?«
»Ich würde sagen, daß sie ein absolut außergewöhnliches Gesicht hat, das einen an niemanden erinnert, den man kennt. Was hast du eigentlich gegen das Mädchen?«
»Nichts«, entgegnete Ellie und blickte wieder nach vorn. »Daphne, ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, daß andere Fahrzeuge, ganz zu schweigen von Kühen oder Schafherden, ebenfalls berechtigt sind, diese schmalen Landstraßen zu benutzen?«
Kritik am Fahrstil ihrer Freundin war ein hervorragendes Ablenkungsmanöver. Ellie vertraute Daphne gern so manches an, aber nicht die möglicherweise egoistischen und banalen Gründe, warum sie Shirley Novello nicht mochte – Gründe, die sie sich nicht einmal selbst eingestand.
»Ehrlich, Ellie. Wie hättest du es denn gerne?«
»Wie wär’s, wenn du einfach ein bißchen langsamer fährst?«
»Und wenn ich
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