Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Herrschaften kommen aus Flensburg. Vielleicht wissen die etwas über Ihre Familie?«
An dem versteinerten Blick Mister Sullivans konnte ich ablesen, was da durch seinen Kopf ging. Er fragte sich bestimmt, warum ich ihm vorgelogen hatte, dass meine Familie aus Altona stammte. Und wenn er nur ein wenig weiterkombinierte, dann musste ihm wie Schuppen von den Augen fallen, dass da etwas im Argen lag mit seinen Gästen und mir.
»Da müssen Sie sich irren. Ich sagte Altona«, versuchte ich zu retten, was zu retten war. Ich machte alles noch schlimmer.
»Also, Misses Brodersen, ich muss sehr bitten. Halten Sie mich nicht für blöd. Sie sagten Flensburg!«
»Ob sich die Damen jetzt vielleicht mit dem Essen beschäftigen könnten?«, mischte sich Mister Sullivan energisch ein. »Und holen Sie endlich Nafia, Misses Brodersen. Sie wird jetzt dringend zum Servieren gebraucht.«
Ich bemerkte, wie mich Misses Leyland mit ihrem Blick förmlich durchbohrte, aber ich kümmerte mich nicht darum. Mein Herz klopfte mir immer noch bis zum Hals, und während ich mich auf den Weg zum Kochhaus machte, gingen mir allerlei Gedanken durch den Kopf. Sollte ich nicht lieber flüchten? Was, wenn Hauke Mister Sullivan jetzt, nachdem ich den Salon verlassen hatte, mitteilte, wer ich in Wirklichkeit war? Die totgeglaubte Selbstmörderin Hanne Hensen? Doch wo sollte ich dann hin? War ich nicht im Haus von Mister Sullivan, der mir zweifelsohne gut gesonnen war, am sichersten?
Am ganzen Körper bebend kam ich im Kochhaus an, band wie betäubt meine Servierschürze ab, gab sie der verdutzten Nafia und teilte ihr mit, dass ich in der Küche bleiben müsse.
Geistesabwesend rührte ich in allen Töpfen, immer noch unschlüssig, was ich unternehmen sollte. Hier war alles gut vorbereitet, sodass ich eigentlich nicht mehr zu tun hatte, als Fleisch und Fisch zu erhitzen und ein wenig nachzuwürzen. Es roch sehr appetitlich, stellte ich fest, wenngleich ich keinen Bissen würde herunterwürgen können. Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam zu keinem vernünftigen Entschluss. Immer wieder verspürte ich den Impuls, wegzulaufen, was ich jedes Mal aufs Neue verwarf. Wohin, fragte ich mich, wohin? Ich konnte mich doch nicht fünf Monate lang in den Bergen von Saint Croix verstecken.
Trotz meiner zermürbenden Gedanken schaffte ich es, das Essen fertigzustellen und in die Diele zu bringen. Nachdem Nafia das letzte schmutzige Geschirr zurückgebracht und wir es gemeinsam gesäubert hatten, stieß ich einen tiefen Seufzer aus. Ich hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Natürlich merkte ich Nafia ihre brennende Neugier an, zu erfahren, was geschehen war. Nun konnte sie wohl nicht mehr an sich halten.
»Was ist da drinnen passiert? Warum musstest du plötzlich in die Küche? Ist der widerliche Kerl zudringlich geworden?«
»Das auch«, stöhnte ich, um danach wieder in brütendes Schweigen zu verfallen.
»Du verheimlichst mir doch was«, bemerkte Nafia beleidigt.
»Ich fühle mich nicht wohl«, sagte ich leise. So gern ich es wollte und so dringend ich in dieser Lage eine Vertraute hätte gebrauchen können, ich wollte sie nicht mit der Wahrheit belasten. Und schon gar nicht mit in die Sache hineinziehen …
Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich das Kochhaus. Im Garten atmete ich ein paarmal tief durch. Immerhin hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich würde auf mein Zimmer gehen und warten, was Mister Sullivan mir zu sagen hatte. Wenn Hauke mich inzwischen enttarnt hatte, musste ich auch damit leben. Aber ich würde kämpfen und Mister Sullivan meine Version der Geschichte erzählen! Dann würden wir ja sehen, wem er glaubte: meinem windigen Schwager oder mir!
Ich war gerade auf halbem Weg zwischen Kochhaus und Villa, als mich plötzlich jemand am Arm packte und hinter einen Mahoe-Baum zog. Ich erschrak zu Tode, wollte schreien, aber man hatte mir den Mund zugehalten.
»Ich würde dir raten, keinen Mucks von dir zu geben«, raunte es drohend an meinem Ohr. Ich erkannte seine Stimme sofort. Es war Hauke.
Er ließ mich los. Ich drehte mich langsam zu ihm um und erschrak. Er stierte mich merkwürdig an. Mit einer Mischung aus Entsetzen, Verwunderung und Panik.
»Hast du ihnen gesagt, wer ich bin?«, fragte ich heiser.
Hauke schüttelte den Kopf. »Sollte ich?«, erwiderte er.
»Warum nicht? Warum sollte ein gemeiner Mörder nicht zugleich kein mieser Verräter sein?«
Das hatte gesessen. Er wurde blass.
»Man hat mich erpresst …
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