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Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava Bennett
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ein Matrosenhemd, aber nicht zu vergleichen mit denen, die neuerdings Kinder als Sonntagsstaat trugen, sondern ein abgetragenes und verschlissenes Ding. Dazu reichte er mir einen flachen Hut, an dem zwei schwarze Bänder hingen. Und schließlich eine dicke Jacke.
    »Und wo soll ich mich in einen Kerl verwandeln? Hier im Freien?«
    »Nee, nee. Der Alte würde mich kielholen, wenn ich das zulassen würde. Kommen Sie mit zum Schuppen rüber.«
    Ich folgte ihm zögernd, denn nun wurde es wieder stiller. Fast unheimlich still. Und auch der Schuppen, der vor uns auftauchte, machte auf mich nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck. Der Schiffsjunge öffnete die knarrende Tür und gab mir eine Leuchte in die Hand.
    »Ich warte vor der Tür«, sagte er.
    Das Tier, das ich im Schein der Funzel weghuschen sah, war nicht dazu angetan, mich besser zu fühlen. Eine derart fette Ratte hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Ich atmete tief durch, schien es mir doch nicht angebracht, mädchenhafte spitze Schreie auszustoßen. Dann aber versuchte ich eilig, die Luft anzuhalten, denn die Gerüche, die mir in die Nase strömten, verursachten mir sofort einen heftigen Brechreiz. Ich darf nicht so empfindlich sein, ermahnte ich mich streng. Wer weiß, was noch auf mich zukommt.
    Ich wusste nicht viel über das Leben auf einem Schiff, nur dass die Seeleute ein besonderes Völkchen waren. Man kannte die düsteren Gassen am Hafen zumindest vom Hörensagen. Sie zu betreten, war uns jungen Damen natürlich verboten. Doch das, was man über das Leben der wüsten Gesellen erfahren hatte, reichte aus, um die Phantasie anzuregen. Von finsteren Spelunken war die Rede, von käuflichen Mädchen und Mengen von Alkohol. Würden die Matrosen nicht skeptisch werden, wenn sie mich sahen, denn, obwohl ich recht groß war, so hatte ich doch ganz eindeutig ein Frauengesicht? Wenn ich allerdings an den Milchbubi dachte, der mich hergebracht hatte – neben dem würde ich ohne Weiteres als Mann durchgehen.
    Ich fröstelte, während ich mich aus meinem Kleid schälte. Hastig stieg ich in die Hose, die mir viel zu groß war, aber sie besaß einen Strick, mit dem man sie zusammenbinden konnte. In dem Matrosenhemd versank ich beinahe, aber ich stopfte es in die Hose und kaschierte es mit der dicken Jacke. Ein Problem war mein dickes langes Haar. So sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, meine Lockenpracht unter den platten Hut zu stopfen. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte, wenngleich mir allein der Gedanke Tränen in die Augen trieb. Ich war immer so stolz auf mein schönes Haar gewesen, aber es war jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten. Schließlich ging es um mein Leben und die Existenz meiner Familie. Was war der Verlust dieser paar Locken gegen den Verlust des Lebens? Nein, meine Rolle in diesem Spiel war es nicht, das Opfer zu sein, sondern die Kämpferin!
    Also bat ich den Jungen da draußen, mir eine Schere zu bringen. Zunächst schaute er mich begriffsstutzig an. Als ich aber seufzend auf meine Locken, die unter dem Hut hervorlugten, deutete, erhellte sich sein Gesicht, und er rannte zum Schiff zurück.
    Wenig später kam er mit einer Schere zurück. Sie war so stumpf, dass es fürchterlich ziepte, als ich Strähne um Strähne abschnitt. Nun konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht laut aufzuschluchzen, kappte ich alles, was noch unter der Mütze hervorlugte.
    Als ich fertig war, wischte ich die Spuren meiner Tränen fort, packte meine Frauenkleider in den kleinen Koffer und ging zu dem Jungen zurück. Der aber winkte ab.
    »Bleiben Sie! Sie werden abgeholt. Hier sind Sie sicher.« Er griff nach meinem Koffer. »Ich soll Ihr Gepäck an Bord bringen. Befehl vom Alten.«
    Der Gedanke, allein zurückzubleiben, behagte mir ganz und gar nicht. Seufzend kehrte ich in die stinkige Bude zurück und ließ mich auf eine Kiste fallen. Obwohl es ein schrecklicher Ort war, muss ich wohl kurz eingenickt sein, denn ich schreckte hoch, als ich Heinrichs Stimme vernahm.
    »Wo bist du, Hanne?«
    Meine Funzel war ausgegangen, und es herrschte völlige Dunkelheit in dem Schuppen.
    »Hier bin ich«, rief ich. »Ich kann nichts sehen.«
    »Ich öffne jetzt die Tür, und dann folge dem Licht«, befahl er.
    Da sah ich auch schon seinen Schatten in der Tür auftauchen und warf mich verzweifelt an seine Brust. Er strich mir beruhigend über die Wangen, doch dann trat er einen Schritt zurück und

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