Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
betrachtete mich prüfend. Er pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du so einen feschen Kerl abgeben kannst. Und du hast dein ganzes schönes Haar unter den Hut gestopft?«
Ich lüftete den Hut. Heinrich stand da mit offenem Mund. Aus seinen Augen sprach das nackte Entsetzen. Dann erhellte sich seine Miene: »Wie ein gerupftes Huhn, aber tröste dich. Das wächst in den nächsten drei Monaten wieder nach. Und so lange werden wir nach Saint Croix brauchen.«
»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, entgegnete ich spöttisch.
»Hat dich auch keiner gesehen, als du dich davongeschlichen hast?«
»Keiner außer dem Jungen, der mich abgeholt hat. Sie werden morgen meinen Abschiedsbrief vorfinden und sich entsetzlich darüber grämen, dass Hanne Hensen aus Kummer über den Tod ihres Ehemannes ins Wasser gegangen ist …«
Erst als ich das nackte Entsetzen in seinen Augen sah, bemerkte ich meinen Fehler. Ich hätte ihm auf offener See anvertrauen sollen, dass ich alle glauben lassen wollte, ich wäre tot, nicht wenige Schritte von zu Hause entfernt.
»Aber Lene weiß, dass du lebst, oder?«
»Was meinst du, würde geschehen, wenn man sie zu meinem Selbstmord befragen würde? Vor allem, wenn Christian dafür gesorgt hätte, dass die Ankläger sie nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen?«
Heinrich zog eine finstere Miene und schwieg.
»Nun sag schon! Hätte ich es riskieren sollen? Es geht um eure Zukunft!«
Heinrich lachte bitter auf. »Nein, es geht in erster Linie darum, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Du wartest in Saint Croix ab, bis sich die Wogen geglättet haben, und dann kehrst du quicklebendig zurück und übernimmst dein Imperium! Derweil ist deine Schwester vor Kummer um deinen Tod aber vielleicht schon wahnsinnig geworden!«
»Du irrst dich, lieber Schwager! Meine Schwester hat erst einmal genug damit zu tun zu begreifen, dass eurem Sohn Jannis mein gesamtes Erbe zufällt und ihr es bis zu seiner Volljährigkeit verwalten werdet. Lene wird sich zwar vor Kummer die Haare raufen, aber später einsehen müssen, dass mein Tod die einzige Chance war, Hensen & Asmussen vor dem Zugriff Christians zu retten. Doch das funktioniert nur, wenn ich niemals zurückkehre. Ich habe keine Wahl. Überleg mal: Es ist für uns alle das Beste, mich einfach sterben zu lassen …«
Heinrich riss mich an sich und murmelte ergriffen: »Das kannst du nicht tun! Du kannst doch deine Heimat nicht auf ewig verlassen!«
»Lieber Schwager, ich habe keine Wahl. Wenn ich bliebe, würde ich unweigerlich im Gefängnis schmoren, und das Vermögen fiele an Christian. Und wenn ich als tot gelte, wird er im Gefängnis schmoren. Sollte ich wiederauferstehen, würde man ihn rehabilitieren und mich für immer einsperren.«
»Weißt du, dass du das tapferste Mädchen bist, das ich kenne?«
Ich rang mich zu einem Lächeln durch. »Die kommenden Monate werde ich wohl eher ein weibischer Schiffsjunge sein, auf den die rauen Gesellen bald mit Fingern zeigen!«
Jetzt war es an Heinrich, geheimnisvoll zu lächeln. »Nein, man wird dich mit Respekt behandeln, denn ich werde dich meinen Leuten als den Sohn eines reichen Handelsherren vorstellen, dessen Vater verlangt hat, dass der Junge, bevor er ihn beerbt, auf einem Schiff gefahren ist. Und ich werde ihnen nahelegen, den Burschen zu schonen, weil er mit seinen zarten Händen kaum in der Lage sein wird, vom Mast in die Rah zu klettern. Nein, du wirst dich in schüchterner Zurückhaltung üben. Dann kann die Maskerade kaum auffliegen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte ich und folgte ihm zum Schiff. Wohl war mir nicht, als Heinrich mich der versammelten Mannschaft – es waren knapp zwanzig Mann Besatzung an Bord – als Hans, den Sohn des Handelsherren Broder Brodersen, eines Bruders unseres Notars, vorstellte. Der Mann besaß so viele Söhne, dass keine Gefahr bestand, einer der Seeleute könne den Schwindel bemerken. Ich traute mich kaum, in die Runde zu blicken, denn die meisten der Seeleute sahen zum Fürchten aus. Sie trugen bis auf die Milchgesichter dichte Bärte, und bei den meisten guckte ungekämmtes Haar unter den Hüten hervor. Mit Bedauern stellte ich fest, dass ich mich gar nicht so schlimm hätte verschandeln müssen, aber nun war es zu spät.
Mir entging nicht, dass bei Heinrich ein recht spöttischer Unterton mitschwang, als er seine Leute ermahnte, den jungen Herrn Brodersen mit Respekt zu behandeln, obwohl er keine Ahnung
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