Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Mischung aus Todesverachtung und ungezügelten Rachegelüsten! Kein Wunder, denn der Batsman war kein geringerer als James’ Bruder Richard. Hastig eilte Valerie mit gesenktem Kopf gen Ausgang. Sie hatte das Spiel mit dem festen Entschluss verlassen, auf James zu warten. Aber nur, um ihm zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen, doch auf einmal verließ sie der Mut. Sie atmete ein paarmal tief durch, bevor sie sich im Laufschritt zur Kutsche bewegte. Ich will ihn nicht sehen, dachte sie entschieden. Nur, um ihm ins Gesicht zu schleudern, dass sie ein Mischling war, würde sie nicht auf ihn warten. Viel wichtiger war doch, dass sie Ethan nicht unnötig verletzte, denn wenn es einen Mann gab, der wirklich zu ihr passte, war es der junge Arzt. Er war attraktiv, humorvoll, warmherzig … und er wusste, wie man sich fühlte, wenn man plötzlich über seine wahre Identität in Kenntnis gesetzt wurde.
Valerie blieb abrupt stehen und spielte mit dem Gedanken, umzudrehen und zurück an ihren Platz zu gehen. So als wäre nichts gewesen. Aber selbst wenn sie sich dazu durchringen würde, sie konnte nicht zurück. Es würde zu einem Spießrutenlauf werden, weil sie es unter den Cricket-Anhängern zur traurigen Berühmtheit gebracht hatte. Als die Frau, deren provozierende Anwesenheit in der ersten Reihe James Fuller und den »Golden Suns« ein Timed Out beschert hatte. Ich kann das nicht, ich begebe mich auf keinen Fall in die Lage, von diesen Leuten angestarrt zu werden, dachte sie und setzte ihren Weg fort.
Jerome war sichtlich irritiert, als Valerie vor Spielende allein zurückkehrte. Sie sah es an seiner gekräuselten Stirn, aber er stellte keinerlei neugierigen Fragen, als sie ihn bat, sie auf schnellstem Wege nach Hause zu bringen. In ihrem Kopf ging alles wild durcheinander. Erst als die Kutsche in der Auffahrt zum Haus bei den Hibiskusbüschen angekommen war, konnte sie wenigstens einen klaren Gedanken fassen: Gleich morgen würde sie Ethan Brown im Haus seines Großvaters aufsuchen und ihn um Verzeihung bitten.
12
Madeira, Dezember 1831
H einrich ist einer meiner beiden Helden. Zu dem anderen komme ich später. Ich weiß es nicht anders auszudrücken. Lebensretter, Schutzengel? Wie kann ich je wiedergutmachen, was mein Schwager für mich getan hat? Immer, wenn ich mich bei ihm bedanke, sagt er, dass es doch eine Selbstverständlichkeit gewesen sei und dass ich die Existenz der Familie durch die Vortäuschung meines Todes und die Verfügung, Jannis als meinen Erben einzusetzen, gerettet hätte. Aber er hat mich nicht nur vor dem Gefängnis gerettet, sondern auch noch vor dem Ertrinken. Doch dazu später! Ach, ich habe in den letzten Wochen so viel erlebt, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Und es kommt mir so vor, als seien seit jenem schicksalshaften Tag, an dem ich meine Heimat verlassen musste, Jahre vergangen.
Ich hatte es in jener Nacht im Haus nicht mehr ausgehalten und war zu meiner Bank geschlichen. Dort hockte ich bibbernd vor Kälte und wartete darauf, dass man mich an Bord der Hanne von Flensburg holte. Draußen zu warten, war keine gute Idee gewesen. Vor allem hatte ich nicht nur mit dem klirrenden Frost zu kämpfen, sondern auch gegen eine bleierne Müdigkeit. Mir war klar, ich durfte auf keinen Fall einschlafen, doch das war gar nicht einfach. So schwer der Gedanke, mein Zuhause auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, auch auf meiner Seele lastete, ich war erleichtert, als ich Schritte vernahm. Ein junger Kerl, fast noch ein halbes Kind, pirschte sich auf leisen Sohlen heran. Ich ging ihm entgegen. Stumm verließen wir das Anwesen meines Vaters. Unten am Fuße des Hügels angekommen, blieb ich stehen und warf einen Blick zurück. Es wollte mir schier das Herz brechen, als ich die beiden prachtvollen Häuser unter dem Sternenhimmel sah. Hastig wandte ich mich ab und machte mich, ohne mich noch einmal umzudrehen, auf den Weg zum Hafen. Als wir uns dem Schiff näherten, wurde es laut. In der Stadt war es totenstill gewesen, hier tobte das Leben. Es wurde geredet, gelacht, gesungen, gehämmert, Waren wurden verladen. Ein buntes Treiben, in das ich mich sogleich stürzen wollte, doch da hielt mich der Junge zurück.
»Man darf Sie nicht in diesem Aufzug sehen«, ermahnte er mich und reichte mir ein paar Kleidungsstücke. »Sie müssen wie ein Schiffsjunge aussehen, hat der Alte befohlen.«
Ich sah ihn verwundert an, dann betrachtete ich prüfend ein Kleidungsstück nach dem anderen: eine dunkle Hose,
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