Das Haus auf den Klippen
Behörden Druck auszuüben, damit sie Scott Covey
die Verantwortung für Vivians Tod öffentlich anlasteten. Die
Medien ergötzten sich nun an dem gefundenen Fressen und verhackstückten jede Einzelheit aus Vivians Leben, deren sie habhaft wurden.
Die Schmonzetten bezeichneten sie mittlerweile als »das arme
kleine reiche Mädchen«, »die Verstoßene« oder »die grasrauchende Rebellin«. Details aus dem Privatleben der Familie wurden verzerrt und zum Vergnügen der Öffentlichkeit lächerlich gemacht.
Anne war am Boden zerstört, fühlte sich gedemütigt und erbittert. »Vielleicht hätten wir die Sache ruhen lassen sollen,
Graham. Wir können sie ja nicht ins Leben zurückrufen, und
jetzt zerstört man auch noch die Erinnerung an sie.«
Wenigstens würde die Zeugenvernehmung vor Gericht Klarheit schaffen, überlegte Graham, während er ihre 5-Uhr-Martinis
herrichtete und das Tablett auf die Sonnenveranda hinaustrug,
wo Anne sich ausruhte.
»Noch ein bißchen früh dafür, findest du nicht?« fragte sie.
»Ja, ein wenig«, stimmte er zu. »Das war eben der Bezirks
staatsanwalt am Telefon. Der Richter von Orleans beruft für
Montag nachmittag eine Anhörung vor Gericht ein.«
Auf ihren bestürzten Gesichtsausdruck hin sagte er: »Wenigstens kommen dann die genaueren Umstände ans Licht. Es ist
eine öffentliche Vernehmung, und nach der Darlegung aller Tatsachen hoffen wir vom Richter eine der drei Entscheidungen zu
hören: keine ausreichenden Beweise für ein Verbrechen; keine
Beweise für Fahrlässigkeit; keine Beweise für fahrlässige Tötung.«
»Ja, aber was ist, wenn der Richter beschließt, daß keine Beweise für Fahrlässigkeit oder ein Verbrechen vorliegen?« meinte
Anne. »Dann haben wir uns diesen ekligen Medienrummel umsonst angetan.«
»Nicht umsonst, meine Liebe. Das weißt du doch.«
Vom Hausinneren her hörten sie es leise läuten. Einen Moment später kam die Haushälterin mit dem drahtlosen Telefon an
die Tür. »Mr. Stevens ist dran, Sir. Er hat gesagt, es ist wichtig.«
»Das ist der Ermittler, den die Versicherung auf Covey angesetzt hat«, erklärte Graham. »Ich habe verlangt, daß ich umgehend informiert werde, falls er irgend etwas herausfindet.«
Anne Carpenter beobachtete ihren Mann, wie er aufmerksam
zuhörte und dann ein Trommelfeuer von Fragen losließ. Als er
das Gespräch beendete, wirkte seine Miene belebt.
»Stevens ist in Florida, in Boca Raton. Das ist der Ort, wo
Scott letzten Winter war. Offenbar hat ihn dort mehrere Male
eine auffallend herausgeputzte Brünette besucht, die Tina heißt.
Das letzte Mal eine Woche, bevor er hierhergekommen ist und
Vivian geheiratet hat!«
G
leich nachdem sie Adam am Flughafen abgeholt hatte, bekam
Menley das Gefühl, daß ihn irgend etwas aus der Fassung
brachte. Sie begriff die Ursache, als sie sich fürs Bett fertigmachten
und er ihr die von Dr. Kaufman verschriebene Medizin gab.
»Wer von euch beiden hat wen angerufen?« fragte sie ruhig.
»Ich habe die Ärztin angerufen, die sich nicht schlüssig war,
ob sie mich anrufen sollte oder nicht.«
»Ich glaub, ich rede lieber morgen früh darüber.«
»Wenn dir das lieber ist.«
Es war so, wie sie in dem Jahr nach Bobbys Tod und vor ihrer
Schwangerschaft mit Hannah zumeist schlafen gegangen waren,
dachte Menley. Ein unpersönlicher Kuß; beide voneinander abgerückt; unvereinbare Gefühle, die sie so effektiv trennten wie
das bundling board der Neuengländer früher.
Menley drehte sich zu ihrer Seite hin und bettete ihr Gesicht
auf die Hand. Ein bundling board. Komisch, daß sie diesen Vergleich zog. Sie war gerade auf diese Einrichtung aus der Kolonialzeit gestoßen: Im Winter war es häufig so kalt im Haus gewesen, daß ein junger Mann und eine junge Frau, die sich den Hof
machten, gemeinsam im selben Bett liegen durften, aber nur voll
bekleidet, in Decken gewickelt und mit einer langen, fest verankerten Holzbohle dazwischen.
Wieviel hat Dr. Kaufman Adam erzählt? fragte sich Menley.
Empfand sie es wohl als ihre Pflicht, ihn über diese Flashbacks
in Kenntnis zu setzen, als ich dachte, ich hätte den Zug und dann
Bobby rufen gehört?
Dann erstarrte Menley. Hat die Therapeutin womöglich Adam
weitererzählt, daß Hannahs Geschrei mich zutiefst verstört hat
und ich mir nicht zugetraut habe, sie hochzunehmen? Und hat
Adam der Ärztin vom Witwensteg erzählt? Von der Sache hatte
ich ihr nichts gesagt.
Dr. Kaufman und Adam befürchten vielleicht, daß
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