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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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entschuldigte sich ständig, auch wenn es dafür keinen Anlass gab.
    Eine Woche später hätte Raïssa beinahe einen Herzschlag erlitten. Sie waren zu zweit in der Wohnung. Olga wusch im Bad einen teuren Kaschmirpullover von Oleg, als Raïssa sie schreien hörte. Sie rannte ins Bad. Das Mädchen zitterte und schaute entsetzt in die Waschschüssel, die auf einem Brett auf der Badewanne stand.
    »Er ist runtergefallen«, murmelte Olga. »Ich hätte einen Stromschlag kriegen können.«
    In der Waschschüssel, auf dem Pullover, lag der Föhn, den Galina jeden Morgen benutzte.
    Raïssa begriff: Wenn sich der Föhn zufällig eingeschaltet hätte, was leicht hätte passieren können, denn der Stecker befand sich in der Steckdose, wäre Olga durch einen Stromschlag getötet worden. Im Übrigen dachte sich Raïssa damals nichts weiter. Sie registrierte nur flüchtig, dass Galina noch nie zuvor vergessen hatte, den Stecker zu ziehen. Aber vielleicht war sie ja in Eile gewesen … Und woher sollte sie vorher gewusst haben, dass Olga einen Pullover waschen würde?
    Eine weitere Woche später kam Oleg ins Krankenhaus. Galina erklärte Raïssa, er habe Magenprobleme. Olga saß tagelang bei ihm. Abends ging Galina zu ihr ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich, und Raïssa hörte Olga schluchzen. Galinas Worte konnte Raïssa nicht hören, denn sie sprach sehr leise.
    Als Raïssa eines Tages vorsichtig die Tür öffnete, sah sie Olga auf dem Fensterbrett stehen. Das Fenster stand weit offen – im neunten Stock. Raïssa huschte auf Zehenspitzen rasch zu Olga und umklammerte ihre Beine. Zum Glück war das Fensterbrett ziemlich breit.
    »Lass los!«, schrie Olga, drehte sich aber um und ließ sich vom Fensterbrett auf den Fußboden gleiten.
    Raïssa schloss schnell das Fenster, setzte sich neben Olga, legte den Arm um sie, streichelte sie und fragte immer wieder: »Was hast du denn? Na, was hast du denn? Komm, erzähls mir.«
    »Sie hasst mich«, sagte Olga. »Sie wird mich so oder so umbringen. Also tu ichs lieber selber.«
    Raïssa erschauerte, als sie in Olgas heiße, trockene Augen blickte. Zum ersten Mal wagte sie, Olegs Vater auf seiner Arbeitsstelle anzurufen. Er hörte sie an, schwieg lange, atmete schwer in den Hörer und sagte schließlich: »Du solltest mal Urlaub machen, Raïssa. Du arbeitest zu viel. Ich besorge dir gleich heute einen Platz in einem Ferienheim unseres Ministeriums. Olga wollte bloß die Gardine festmachen, da hatten sich ein paar Clips gelöst.«
    »Nein, nein! Sie stand auf dem Fensterbrett, hochschwanger, und das Fenster war sperrangelweit offen«, murmelte Raïssa hastig in den Hörer, verstummte aber sofort, weil ihr einfiel, dass sich tatsächlich einige Clips gelöst hatten, die sie selbst eigentlich hatte befestigen wollen, aber Olga hatte gesagt: »Lass nur, das mache ich selbst.«
    »Willst du allein fahren oder mit deinem Mann?«, fragte Solodkin.
    »Ich würde gern meine Tochter mitnehmen«, antwortete Raïssa mechanisch.
    Es war April, sie konnte tatsächlich Erholung gebrauchen, und im Grünen war es jetzt sehr schön.
    Als sie aus dem Urlaub zurückkam, war Olga nicht mehr da.
    »Sie haben sich getrennt«, erklärte Galina, »ich wusste von Anfang an, dass es so kommen würde, die beiden sind zu verschieden. Es geht ihr nicht schlecht. Sie hat eine eigene Bleibe und eine ältere Schwester. Finanziell werden wir sie natürlich unterstützen.«
    Nach einigen Monaten, im Juni, entschloss sich Raïssa zu fragen, ob Olga einen Jungen oder ein Mädchen geboren habe.
    »Ein Mädchen«, antwortete Galina.
    Raïssa fand die Solodkins schrecklich herzlos, stellte sich aber aus Angst um ihre Stelle taubstumm. Die Solodkins taten, als existierten Olga und das kleine Mädchen, ihr Enkelkind, gar nicht. Bald darauf starb Solodkin an einem Herzinfarkt. Oleg war immer häufiger und schwerer krank, und Raïssa war überzeugt, das sei die Strafe. Er würde nie mehr gesund und glücklich sein. Aber sie wünschte ihm nicht den Tod; den Tod wünschte sie niemandem.
    Der Mond kam hinter einer Wolke hervor, schwaches, dunstiges Licht fiel auf Olegs Gesicht, und Raïssa meinte plötzlich, seine Lider zittern zu sehen. Sie erhob sich schwerfällig. Die Hunde auf den Nachbargrundstücken heulten nicht mehr, es war ganz still, nur die Blätter raschelten, und außerdem glaubte Raïssa noch ein weiteres, ganz schwaches Geräusch zu vernehmen. Entschlossen berührte sie Oleg, denn ihr fiel ein, dass sie nicht einmal

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