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Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Gesicht, und in seinem Blick braute sich ein Gewitter zusammen. Er sah auf das Foto in ihrer Hand, und sie reichte es ihm.
    »Es ist 1930 aufgenommen worden, als meine Mutter ein Jahr alt war.« Jonathan nahm das Bild.
    Während er den schwarzweißen Schnappschuß eines Paares betrachtete, das vor einer Tür mit dem Schild »Harmonie-Barclay Hongkong Ltd.« stand, studierte sie sein Gesicht, sah sich an jeder Einzelheit satt – der langen, geraden Nase, dem forschen Kinn, der verlockenden Unterlippe – und hielt sein Bild fest, wie die beiden Gestalten auf dem Foto festgehalten waren. Auf diese Art konnte sie ihn sich bewahren, wenn er in Kürze nicht mehr dasein würde, diesmal, das wußte sie, für immer.
    Sie beobachtete seinen Mund und erinnerte sich an ihren ersten Kuß, mit sechzehn, in Johnnys Versteck. Er hatte irgend etwas verdrahtet und dann plötzlich aufgeblickt und gesagt: »Gestern nacht habe ich ein ganz merkwürdiges Geräusch gehört. Es kam aus dem Zimmer meines Vaters.«
    Charlotte, die auf dem Bett hockte, fragte: »Was für eine Art Geräusch war es denn?«
    »Mein Vater hat geweint. Ich habe an seiner Tür gehorcht. Es war schrecklich … ein qualvolles Schluchzen.«
    »Und was war der Grund?«
    »Ich habe geklopft. Er hat nicht gesagt, daß ich reinkommen soll, mich aber auch nicht weggeschickt. Also habe ich den Griff runtergedrückt, und es war nicht abgeschlossen. Ich öffnete die Tür und sah ihn im Schlafanzug am Fenster stehen. Er stand einfach da und schluchzte. Ich sagte: ›Dad? Ist was nicht in Ordnung, Dad?‹ Und er sah mich an und weinte immer noch, und die Tränen strömten ihm über die Wangen.«
    »Und?«
    »Das war alles. Er … er sah mich nur an.«
    Sie merkte, daß auch seine Augen feucht wurden, rutschte vom Bett und setzte sich neben ihn auf den Boden. »Was kann es gewesen sein? Warum sollte er weinen?«
    »Ich glaube, ich weiß es.«
    »Ja?«
    »Ich glaube, er wollte mir sagen, daß er einsam ist, aber er wußte nicht, wie.«
    »Und was hast du gemacht?«
    »Ich bin gegangen. Ich schloß die Tür und ging. Ach, Charlie, warum konnte er es nicht aussprechen? Die Luft war voll davon, schwer wie Rauch. Mein Vater, so reich an Geld und Einfluß, stand im Schlafanzug und weinte vor lauter Einsamkeit. Warum konnte er es mir nicht sagen? Vielleicht hätte ich ihm helfen können.«
    Warum kannst du auch nie sagen, was du empfindest? hätte sie am liebsten geantwortet. Aber es wäre grausam gewesen, Johnny klarzumachen, daß er lediglich in den Spiegel gesehen hatte. Darum hatte sie ihn nur mitfühlend in die Arme genommen, diesen einsamen Jungen, der um seinen einsamen Vater weinte, und ihre Lippen hatten ihn getröstet.
    In den Monaten danach hatten sie sich oft geküßt, einander erforscht, Dinge ausprobiert und die Freude genossen, die sie einander schenkten. Aber ohne Worte waren sie sich darin einig gewesen, den letzten Schritt nicht zu tun. Beide wünschten sich, daß das erste Mal etwas Besonderes sein sollte, und beide wußten, wenn der Augenblick kam, würde es genau der richtige sein.
    Es geschah ein Jahr später, als Johnny an der Reihe war, sie zu trösten, sie in die Arme zu nehmen und ihren Kopf an seine Brust zu drücken, während er etwas Trauriges, Schottisches raunte. Sie hatte ihr Gesicht in seinem rauhen Hemd vergraben und endlich schluchzen können, ein schweres, schmerzhaftes Schluchzen, das ihren ganzen Körper erschütterte. Johnny hatte sie noch fester gehalten und hin und her gewiegt. Er wußte, wie es war, wenn man einen geliebten Menschen verliert, eine Mutter oder einen Onkel, der wie ein Vater ist. Aber dieses Mal hatte das Trösten nicht mit einem Kuß aufgehört.
    Charlotte zwang sich in die Gegenwart zurück. »Ich habe immer gewußt, daß Onkel Gideon und ich in Wirklichkeit nicht verwandt waren. Er war der Adoptivsohn meines Urgroßvaters. Aber jetzt …«
    »Nun?«
    »Sieh dir das Bild an. Die Frau ist meine Großmutter, Vollkommene Harmonie. Sie war damals zweiundzwanzig.«
    »Eine Schönheit«, murmelte Jonathan.
    »Und nun der Mann. Das ist Onkel Gideon.«
    »Ich weiß. Ich erkenne ihn.«
    »Aber schau ihn dir genauer an, Jonathan, achte darauf, wie er meine Großmutter ansieht, während sie in die Kamera blickt. Es ist der Ausdruck eines Liebenden. Und was verrät ihr Gesicht? Es ist voller Trauer. Das Bild wurde aufgenommen, als sie ihr erstes Büro in Hongkong eröffneten und anfingen, die Titan Minengesellschaft mit

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