Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Berührung gezähmt. Er sehnte sich schmerzhaft danach, sie wieder in den Armen zu halten wie vorhin, als ihnen das furchtbare Mißverständnis der letzten sechzehn Jahre klargeworden war. Wie sie gesagt hatte: Soviel vergeudete Zeit, nur weil eine Eins ausgesehen hatte wie eine Sieben.
»Es steht alles hier drin. Du mußt es lesen.« Sie hielt ihm das alte Buch hin, das sie in der Schublade der Küchenecke im Büro ihrer Großmutter gefunden hatte. Es bestand aus Pergamentblättern, die von zwei hölzernen Buchdeckeln geschützt und mit oben und unten durch Löcher gezogener Schnur zusammengebunden waren. »Ich hatte keine Ahnung, was es war«, erklärte sie, als er es nahm. »Aber tatsächlich handelt es sich um das Tagebuch meiner Großmutter zu Anfang der fünfziger Jahre. Ich habe nie gewußt, daß sie ein Tagebuch führte.«
Jonathan blätterte vorsichtig die brüchig gewordenen Seiten um. Seine Augen folgten der säuberlichen, verschnörkelten Schrift, die Harmonie einst in Singapur in der Missionsschule gelernt hatte. Plötzlich hielt er inne und starrte auf den letzten Satz der Seite. »Desmond ist dein Bruder?«
»Halbbruder. Ich nehme an, wir hatten verschiedene Väter. Das Buch bestätigt auch meine Vermutung über meinen eigenen Vater. Meine Mutter war nie verheiratet. Der Taucher war reine Erfindung, eine kunstvoll inszenierte Lüge, von der alle wußten. Und jetzt paß auf.« Sie warf das Handtuch hin und band sich das lange Haar mit einem schwarzen Seidenband zusammen. »Erinnerst du dich, daß ich dir gesagt habe, es müßte etwas passiert sein, während ich letztes Jahr in Europa war, weil Des sich so verändert hätte? Jetzt glaube ich, es ist deshalb, weil er in dieser Zeit die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hat. Als er mich heute nacht im Treppenhaus abfing, redete er lauter wirres Zeug. Er fing immer wieder von meiner Mutter an und machte abfällige Bemerkungen über Margo …«
»Du brauchst mich nicht zu überzeugen«, unterbrach er sie und deutete auf den Bildschirm. »Durch den Stromausfall hat es ein bißchen länger gedauert, aber ich konnte die Dateien zurückholen, auf die zuletzt Zugriff genommen wurde, und der Spur der zuletzt kopierten Rezeptur folgen. Mein Spürhund hat mir eine IP-Adresse geliefert, die ich über INTERNIC lokalisieren konnte.«
Charlotte spähte auf den Schirm. »Desmond Barclay.«
Jonathan griff nach seinem schwarzen Anorak. »Wir haben nicht viel Zeit.«
51
Sie fuhren zuerst zu Harmony Biotec, weil Jonathan sich dort noch über etwas Gewißheit verschaffen wollte.
Er lenkte den Mietwagen auf einen versteckten Parkplatz, und sie betraten über die Hintertreppe das Hauptgebäude. Auf dem zweiten Treppenabsatz lag noch die flache, silberne Flasche, aus der Desmond getrunken und die er dann weggeworfen hatte. Charlotte hob sie auf und roch daran. »Das habe ich mir doch gedacht. In der Flasche war kein Alkohol, sondern gewöhnliches Wasser. Desmond hat nur so getan, als sei er betrunken. Vielleicht hat er sich mit Adrians Whisky den Mund gespült oder etwas davon auf seinen Pullover gespritzt. Es war reines Theater, Jonathan, damit ich glauben sollte, daß er völlig betrunken sei.«
»Zu betrunken, um E-Mails zu verschicken«, nickte Jonathan.
Sie liefen eilig den Gang hinunter, wobei sie immer wieder stehenblieben und sich vergewisserten, daß der Bundesagent vor dem Computerraum sie nicht bemerkt hatte und weder Valerius Knight noch seine Leute zu sehen waren. Dann schlüpften sie in Desmonds Büro.
Knights Team hatte seinen Computer wie alle anderen etikettiert, beschriftet und entfernt, ebenso sein Telefon und das externe Modem. Charlotte und Jonathan suchten unter dem riesigen Chefschreibtisch, zogen Schubladen auf, durchwühlten den Papierkorb und die Marmoranrichte, die Hausbar, den Schrank mit den Anzügen und der Designer-Sportkleidung. Sie suchten hinter dem weißen Leinensofa mit den dazu passenden Sesseln, dem verglasten Bücherschrank, selbst unter dem Weidenkorb mit der künstlichen Palme, fieberhaft bemüht, einen Platz zu finden, an dem ein Modem versteckt sein könnte.
»Es muß hier sein«, beharrte Charlotte. »Sein Büro ist der einzige Ort im Gebäude, an dem er sicher sein konnte, nicht gestört zu werden. Er konnte die Tür abschließen und drauflostippen.«
Jonathan ging zu dem Einbaufach zwischen den Bücherschränken zurück und untersuchte noch einmal Stereoanlage, CD-Player und Farbfernseher. »Aha.« Er zog den
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