Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Charlotte hin, wie sie ihr Ohr an die Tür legte. »Weißt du, daß ich nie erfahren habe, wie deine Großmutter gestorben ist? Ich habe die Todesanzeige gelesen, aber es waren keine Einzelheiten daraus zu entnehmen.«
»Es war ein Unfall. Sie hielt sich in der Karibik auf, um nach einem seltenen afrikanischen Kraut zu suchen, von dem sie gehört hatte. Es soll von Sklaven dorthin gebracht worden sein und große Heilkräfte besitzen.«
»Was ist passiert?«
»Sie wollte zu einer der äußeren Inseln fahren. Das Boot kenterte. Mr. Sung war bei ihr. Er hat ihren Leichnam nach Hause gebracht.« Sie wandte den Blick ab. »Es war eine riesige Beerdigung. Hunderte von Leuten.«
Zu viele Blumen, dachte Jonathan. Hunderte von Trauerkränzen, zu viele, um für jeden einzelnen zu danken. Ob sie wohl trotzdem das Telegramm erhalten hatte? Hätte sie nicht wenigstens darauf antworten können?
»Wußtest du, daß mir Großmutter ihre gesamten Firmenanteile vermacht hat? Jeder ging davon aus, daß sie sie gleichmäßig aufteilen würde, damit nicht ein einzelner allein das Sagen habe. Aber sie hinterließ alles mir.«
»Wie haben die anderen reagiert?«
»Ich dachte, Adrian würde der Schlag treffen, gleich dort in Mr. Sungs Büro. Und Margo … der Blick, den sie mir zuwarf, hätte die Hölle gefrieren lassen können.«
Sie steckte ihre Karte in das Sicherheitsschloß. »Von hier aus überwachen wir mit Hilfe von Mikroprozessor-Kontrollsystemen die vielen unterschiedlichen Produktionsparameter. Bevor wir diese Anlage eingerichtet haben, wurde die Qualitätskontrolle von unseren Mitarbeitern durchgeführt, und es gab natürlich ab und zu Unregelmäßigkeiten, was menschlich ist. Es dürfte jetzt niemand dort sein. Agent Knight hat alle Gebäude räumen und versiegeln lassen, noch bevor ich hier war.«
Aber beide erschraken heftig. Es war doch jemand da. Hastig band Jonathan sich den Mundschutz vor das Gesicht.
Auch Mr. Sung fuhr erschrocken vom Schreibtisch auf. »Charlotte!« Er schien einen Moment verwirrt, dann war es, als gehe ein Vorhang herunter, und er zeigte sich gelassen wie stets. »Ich brauchte unbedingt einige wichtige Informationen, und dieser Bundesagent, Mr. Knight, lungert dauernd vor meiner Bürotür herum. Ich hatte den Eindruck, er könnte alles auf meinem Bildschirm lesen.« Sie sah auf den Schreibtisch. »Und haben Sie gefunden, was Sie suchten?«
»Ja, Charlotte«, antwortete er sanft. »Das habe ich.« Er warf einen Blick auf ihren maskierten Begleiter.
»Ich mache einen Sicherheitscheck«, erklärte sie. »Das Isolierlabor bereitet mir Sorgen.«
»Ja. Es muß geschützt werden.« Mr. Sung machte eine kleine Verbeugung und wandte sich zum Gehen.
»Mr. Sung!« rief Charlotte ihm nach.
»Bitte?«
»Warum haben Sie mir das Rätselkästchen gegeben?«
»Es hat deiner Mutter gehört. Jetzt gehört es dir.«
»Aber …«
Er war fort.
Sobald die Tür ins Schloß gefallen war, sagte Charlotte erregt: »Er hat gelogen! Valerius Knight stand nicht vor seinem Büro. Als ich sah, wie Mr. Sung das Hauptgebäude verließ, sprach Knight an der Verladerampe mit Desmond.«
Sie blickte auf die geschlossene Tür und mußte an den Brief denken, den Mr. Sung voller Stolz in seinem Büro aufgehängt hatte, gerahmt und beleuchtet. Er stammte aus dem Jahr 1918 und war an Mr. Sungs Vater gerichtet, dessen Patriotismus und Amerikanismus gelobt wurden. Ebenfalls in diesem Rahmen befand sich ein vergilbter Zeitungsartikel aus demselben Jahr, in dem berichtet wurde, daß ein chinesischer Einwanderer in San Francisco sein Kind nach dem US-Präsidenten genannt hatte. Den Brief hatte Präsident Wilson unterzeichnet. Der neugeborene Junge, der für Nachrichten gesorgt hatte, war Woodrow Sung.
»Vertraust du ihm?« fragte Jonathan.
»Er war viele Jahre ein enger Freund und Berater meiner Großmutter. Ja, ich vertraue ihm. Aber irgend etwas ist da …«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Nur ein Gefühl. Jonathan, letztes Jahr bin ich mit einer Gruppe von Arzneimittelherstellern nach Europa gereist. Ich war einen Monat weg, und als ich wiederkam …« Sie schüttelte den Kopf. »Es war nichts Konkretes und ist es auch jetzt nicht, aber ich hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl … als ob sich Mr. Sungs Einstellung mir gegenüber geändert hätte. Ich kenne ihn mein ganzes Leben lang, aber ich könnte schwören, daß er nach meiner Rückkehr ein anderer war.«
»In welcher Hinsicht? Gut?
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