Das Haus Der Schwestern
von der Arbeit und war sehr müde. In einem der vielen, vom zuständigen Ministerium mit großem Nachdruck aufgebauten Rüstungsbetriebe, die den Versorgungsnotstand britischer Soldaten in Frankreich beheben sollten, hatte sie eine Tätigkeit bei der Herstellung von Eßgeschirren gefunden; eine öde, geistlose Beschäftigung, aber da sie mit irgend etwas Geld verdienen mußte, wollte sie dabei wenigstens versuchen, etwas für die Soldaten zu tun.
Die Kriegsfront in Frankreich war seit einem Jahr erstarrt, verschlammte Schützengräben und verminte Stacheldrahtverhaue zogen sich Hunderte von Kilometern dahin, und nichts bewegte sich. George, der dort drüben als Leutnant der Infanterie im Schlamassel saß, schrieb regelmäßig Briefe an Alice, und diese reichte sie stets bereitwillig an Frances weiter. George war ganz offensichtlich bemüht, nicht zu jammern; aber seine psychischen Wechselbäder zwischen Wut, Verzweiflung und Resignation wurden dennoch deutlich. Seine Kompanie hatte erhebliche Verluste erleiden müssen, und George litt an Depressionen, nachdem er zu viele seiner Kameraden hatte jämmerlich krepieren sehen. Er sprach das nicht aus, aber wer ihn kannte, las es aus jedem Wort.
»Wenn das noch lange dauert«, hatte Alice einmal gesagt, »wird er zum seelischen Krüppel. Selbst wenn er den Krieg überlebt, kommt er als toter Mann zurück.«
Das hatte Frances bewogen, sich um die Arbeit bei einem Rüstungsbetrieb zu bewerben. »So habe ich wenigstens das Gefühl, ihn ein bißchen zu unterstützen«, erklärte sie.
Alice war wütend geworden. »Du unterstützt den Krieg! Das, was George fertigmacht. Ich dachte, du wärest auf Seiten derer, die dagegen sind!«
»Bin ich auch. Aber wir haben nun einmal Krieg, ob wir dagegen sind oder nicht. Jetzt sollten wir unsere Soldaten wenigstens unterstützen.«
Sie stritten heftig deswegen, aber Streit war zwischen ihnen ohnehin an der Tagesordnung. Alice war verbittert und enttäuscht, weil sich in der Frage des Frauenwahlrechts nichts getan hatte und weil der Krieg die Bewegung gespalten und gewissermaßen außer Gefecht gesetzt hatte. Die Dinge schienen im Sande zu verlaufen.
Alice war mehrfach im Gefängnis gewesen, die unmenschlichen Haftbedingungen hatten sie gezeichnet und eine gesundheitlich angegriffene, psychisch labile Frau aus ihr gemacht. Sie hing der Idee nach, für die sie gestritten hatte, der Zeit, in der sie vor Begeisterung und Kampfesgeist geglüht hatte. Mit der Veränderung, die der Krieg ins Land, in das Bewußtsein der Bevölkerung gebracht hatte, kam sie nicht zurecht. Es ließ sie zornig und verzweifelt zugleich werden, ansehen zu müssen, wie scheinbar leicht sich Frances dem Wandel der Dinge anpaßte. Sie begriff nicht oder hatte es nicht registriert, mit wieviel Mühe sich Frances in den vergangenen Jahren eine pragmatische Denkweise angewöhnt hatte: Schau nicht hinter dich, schau auch nicht zu weit vor dich, kümmere dich nur um das, was der Augenblick erfordert.
Es hatte während der Kriegsjahre keinen Sinn, für das Frauenstimmrecht zu streiten, also hätte es Frances als zwecklos empfunden, ihre Kräfte daran zu verschwenden. Alice warf ihr immer wieder vor, sie habe sich im Grunde nie wirklich für »die Sache« interessiert; aber sie konnte diese Behauptung schwerlich untermauern, da Frances wie sie alle im Gefängnis gesessen und gehungert und sich auf der Straße mit der Polizei herumgeschlagen hatte. Trotzdem spürte sie wohl, daß Frances nicht mit ihrem Herzblut dabeigewesen war — so wie sie selbst. Sie drohte nun zu verbluten, Frances hingegen wandte sich neuen Aufgaben zu. Es hatte ein ernsthafter Bruch zwischen ihnen stattgefunden. Ihre Freundschaft sollte sich nie wieder davon erholen.
An dem Abend, als sie John traf, hatte es Frances trotz ihrer Müdigkeit nicht eilig, nach Hause zu kommen; denn Alice war schon am Morgen übler Laune gewesen, und Frances ahnte, daß ein Abend voller Auseinandersetzungen und Streit bevorstand. Sie hatte daher beschlossen, das schöne Wetter zu nutzen und ein wenig spazierenzugehen. Mit der Straßenbahn fuhr sie zum Victoria Embankment hinunter und bummelte ein Stück an der Themse entlang. Die Luft war warm und klar, der Abendsonnenschein ließ das Wasser des Flusses rotgolden glitzern.
Das Stadtbild hatte sich völlig verändert seit den Tagen, da Frances zum ersten Mal in die Hauptstadt gekommen war: überall Soldaten, wohin man blickte. Wenige wirkten noch gesund und
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