Das Haus Der Schwestern
Ich bin ein bißchen müde, das ist es.«
Er musterte sie besorgt, und ihr wurde bewußt, wie unansehnlich sie aussehen mußte. Ihr einfaches, graues Kleid, das zerdrückt und zerknittert an ihr herabhing, war gut genug für die Arbeit in der Fabrik, aber man vermochte kaum einem Mann darin zu gefallen. Sicher sah sie noch fahler und blasser aus als sonst. Die Haare hatte sie lieblos zurückfrisiert, im Laufe des Tages hatten sich einzelne Strähnen gelöst und hingen ihr nun wirr ins Gesicht. Sie fühlte sich klebrig, verschwitzt, abgekämpft und unattrakiv. Sie dachte an die perfekte kleine Victoria. Sicher erwartete sie ihren Mann daheim in einem schönen Kleid, kühl und sauber, gewiß roch sie nach Maiglöckchen statt nach Schweiß.
»Du hast dich nie bei uns blicken lassen in all der Zeit«, sagte John, »ich weiß gar nichts mehr von dir. Was tust du? Wo und wie lebst du?«
»Ich bin eine gute Patriotin. Ich arbeite in einer Rüstungsfabrik.« Sie lächelte etwas mühsam. »Deshalb mußt du auch mein Aussehen entschuldigen. Ich habe den ganzen Tag im Akkord geschuftet. Ich bin ziemlich kaputt.«
Sie hoffte, er hielte sie wirklich für eine Patriotin. Er mußte nicht wissen, daß sie das Geld brauchte. Es war durchaus en vogue, auch in besten Kreisen, für den Kampf Englands zu arbeiten. Allerdings ließen sich die meisten jungen Frauen als Krankenschwestern verpflichten, für Fabrikarbeit konnten sich die wenigsten begeistern.
Er nickte; offenbar dachte er nicht genauer darüber nach, weshalb sie gerade eine so unangenehme Arbeit gewählt hatte. Er schien versunken in eigene Gedanken, und während Frances noch überlegte, was wohl vorging hinter seiner Stirn, sagte er plötzlich: »Etwas würde mich noch interessieren, bevor ich nach Frankreich gehe. Wenn ich dir eine Frage stelle, könntest du sie mir ehrlich beantworten?«
»Das hängt auch von der Frage ab«, erwiderte Frances vorsichtig.
»Dieser junge Mann damals«, sagte John, »der sich deinetwegen das Leben genommen hat — war das etwas wirklich Ernstes? Ich meine, von deiner Seite aus?«
Sie sah ihn überrascht an, sie hatte keine Ahnung gehabt, daß er davon wußte.
»Du weißt das?« fragte sie.
Er lächelte. »Dachtest du, so etwas bleibt ein Geheimnis? Deine Tante Margaret ist nicht unbedingt die Diskretion in Person. Ich glaube, sie hat es vom Ersten Lord der Admiralität bis hinunter zum kleinsten Küchenmädchen am Berkeley Square so ungefähr jedem erzählt, dem sie begegnet ist. Du warst eine Saison lang das beliebteste Klatschthema der Londoner Gesellschaft!«
Sie erkannte, wie abgeschottet sie lebte, denn sie hatte nichts davon mitbekommen. Und sie dachte, wie naiv sie doch war. Natürlich hatte Margaret jedem von der tragischen Romanze erzählt, die sich in ihrem Haus abgespielt hatte, bestens informiert durch Frances’ Abschiedsbriefe. Sicher hatte sie den Brief an Phillip ebenso gelesen wie ihren eigenen. Sie war nicht der Mensch, der einen schönen Tratsch für sich behielt.
»Es war von meiner Seite aus bei weitem nicht so ernst wie von seiner«, antwortete sie auf Johns Frage, »und das ist auch etwas, das ich ...« Sie verstummte.
Er blieb stehen. »Was?«
»Diese Geschichte«, sagte sie, »diese Geschichte, das ist etwas, das ich mir nie verzeihen werde.« Sie räusperte sich. »Hast du zufällig eine Zigarette?« fragte sie.
Er stutzte. Eine Dame, wenn sie schon rauchte, tat dies keinesfalls auf der Straße. Doch dann schien ihm einzufallen, daß Frances sich bereits vor einigen Jahren von einer ganzen Reihe von Konventionen verabschiedet hatte und daß es auf ein öffentliches Fehlverhalten mehr oder weniger nicht ankam.
Er grinste, während er ein silbernes Etui hervorkramte und es ihr darbot. »Bitte sehr. Weniger eigenwillig bist du wohl nicht geworden in all den Jahren.« Er gab ihr Feuer.
Sie nahm einen tiefen Zug. »Man versäumt zuviel im Leben«, sagte sie, »wenn man immer nur damit beschäftigt ist, um jeden Preis jede Regel zu beachten.«
Sein Grinsen verschwand. »Manchmal«, sagte er, »versäumt man auch entscheidende Dinge im Leben, wenn man es zu locker mit den Regeln nimmt.«
Etwas in seinem Tonfall ließ Frances aufhorchen. Das war kein Geplänkel. Eine Traurigkeit sprach aus seiner Stimme, die sie in ihm nicht vermutet hätte. Bislang war sie überzeugt gewesen, die einzige zu sein, die aus den Wirren der vergangenen Jahre mit Verwundungen hervorgegangen war. Nun erkannte sie, daß auch John
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