Das Haus Der Schwestern
ein.
Die beiden Herren standen in der Mitte des Raums. Der Doktor wandte sich zu Frances um. Er war ein alter Mann mit einem zerfurchten Gesicht und freundlichen Augen.
»Oh, Miss Gray! Es tut mir entsetzlich leid, was mit Maureen und dem Baby geschehen ist.«
Sie beachtete ihn gar nicht. Ihr Blick suchte nur ihren Vater. Sie sah ihn an. Grauer Anzug, Uhrkette, Seidenkrawatte, untadelig wie immer. Kaum merklich neigten sich seine Schultern nach vorn. Seine Hände, die auf einer Sessellehne lagen, zitterten leicht. Sein Gesicht war wie erloschen. Frances erschrak vor der stummen Qual in seinen Augen.
»Vater!« rief sie hilflos.
Sie beerdigten Maureen drei Tage vor Weihnachten auf dem idyllischen kleinen Friedhof von Leigh’s Dale, wo die Toten im Schatten alter Bäume mit ausladenden Zweigen ruhten. Im Sommer wuchsen hier hohe Gräser und Farne, ein Seitenquell des River Ure plätscherte als kleines Bächlein vorbei, lilafarbene Blumen entsprossen dem Moos, das in den Ritzen der bröckeligen Friedhofs-mauer saß. Man hatte immer das Gefühl, sich in einem verwilderten, romantischen Garten zu bewegen, und sah sich nicht den beklemmenden Gedanken ausgesetzt, die ein solcher Ort sonst stets hervorrief.
An diesem Dezembertag aber sauste ein kalter Wind durch das kahle Geäst der Bäume, graue Wolken lasteten tief über dem Land und hüllten die Hügel ein; die dünne Schneeschicht war wieder verschwunden und hatte flachgedrücktes, matschiges Gras zurückgelassen. Die Grabsteine erhoben sich dunkel und düster über den blumenlosen, kahlen Gräbern. Ein paar Krähen schwangen sich schreiend aus den Bäumen, als sich die Trauergesellschaft näherte. In der Luft lag ein feiner Nieselregen, dessen kalte Feuchtigkeit jedem langsam in die Knochen drang.
Maureen und ihr Baby wurden gleich neben Kate begraben, in jener Ecke des Friedhofs, die Bürgern katholischen Glaubens vorbehalten war und wo es außer Kates Grab nur noch ein einziges weiteres Grab gab. Für Catherine war vom anglikanischen Pfarrer des Ortes eine Taufe post mortem vollzogen worden, aber sie wurde trotzdem bei ihrer katholischen Mutter bestattet; niemandem wäre es richtig erschienen, die beiden zu trennen. Es war Frances gelungen, einen katholischen Priester aufzutreiben; er hatte von Richmond herüberkommen müssen und war schlechter Laune, weil sein Automobil unterwegs im Matsch steckengeblieben und niemand vorbeigekommen war, der ihm beim Freischaufeln hätte helfen können.
Für Frances kam es einem Alptraum gleich, an diesem Ort zu stehen, den sie seit frühester Kindheit kannte und dessen Idylle sie immer gemocht hatte, und zusehen zu müssen, wie der Sarg mit ihrer Mutter darin in die Erde gesenkt wurde. Sie hätte sich gern an irgend jemandem festgehalten, aber ihr Vater hatte wie selbstverständlich Victorias Arm ergriffen und war mit ihr vorausgegangen, und für Frances blieb nur George, der an diesem Tag hilflos und verwirrt war wie ein alter Mann. Er stand gebeugt und stützte sich auf sie. Immer wieder musterte sie ihn besorgt von der Seite. Wußte er, was vor sich ging? Sein Blick verirrte sich wie immer irgendwo in der Ferne.
Victoria schluchzte die ganze Zeit über und bebte wie Espenlaub. Sie sah wieder einmal perfekt aus: Sie trug einen knöchellangen Pelzmantel, auf dem Kopf eine kleine, schwarze Pelzkappe. Ihre Finger steckten in feinen Lederhandschuhen. Als einzigen Schmuck hatte sie eine einreihige Perlenkette umgelegt. Ihr zartes Gesicht war noch immer hübsch, wenn auch vom Weinen verquollen. Nichts auf der Welt schien ihre Lieblichkeit schmälern zu können. Frances vermochte sich durchaus vorzustellen, daß ihr Anblick Beschützerinstinkte und Zärtlichkeit bei Männern hervorrief. Sie schämte sich, daß sie mit Ärger und Eifersucht auf ihre Schwester blickte, sogar in einem Moment wie diesem. Sie hatten Maureen verloren. Es sollte jetzt nichts Schlechtes geben in ihren Gedanken.
Fast alle Leute des Dorfes hatten sich versammelt, um Maureen das letzte Geleit zu geben. Junge Männer waren auch hier kaum zu sehen — eine weitere, bittere Erinnerung an den Krieg.
Viele Frauen weinten.
»Sie war so lieb, so freundlich«, sagte eine von ihnen zu Frances. »Für jeden hatte sie ein gutes Wort. Daß immer die Besten so früh sterben müssen! «
Und so unnötig, dachte Frances. Maureen war eine gesunde, kräftige Frau gewesen. Sie hätte mindestens so alt werden können wie Kate. Wenn da nicht noch ein Baby gewesen wäre
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