Das Haus Der Schwestern
frühester Jugend diese spröde, herbe Art gehabt hatte, und später war noch das dauernde Nörgeln hinzugekommen. Sie war die jüngere der Schwestern, hatte aber immer älter gewirkt als die großäugige, schüchterne Laura. Nachdem sie ihren Vater bis zu seinem Tod gepflegt und sich dabei völlig aufgerieben hatte — und das mußte man ihr wirklich hoch anrechnen, dachte Laura oft —, hatte sie jeden Mann verjagt, der sich in ihre Nähe wagte, und das taten ohnehin nicht viele. Dann war sie in diesen entsetzlichen Wohnblock bei Chatham gezogen, in dem sie seit nunmehr dreißig Jahren lebte und dessen Tristesse auch den fröhlichsten Menschen langsam in den Trübsinn getrieben hätte. Die Entscheidung für diesen furchtbaren grauen Betonklotz hatte Laura nie verstanden. Es gab in Kent so viele hübsche Dörfer, in denen sich Marjorie ein kleines Cottage hätte mieten und es sich ein wenig behaglich hätte machen können. Da in all ihren Überlegungen jedoch stets nur praktische Gesichtspunkte eine Rolle spielten, hatte sie den Wohnsilo, der wie ein häßliches Geschwür die Landschaft ringsum verunstaltete, vor allem deshalb ausgesucht, weil er nur wenige Minuten von der Firma entfernt lag, in der sie bis vor wenigen Jahren gearbeitet hatte; einer kleinen Fabrik, die Pappteller und -becher und Papierservietten herstellte.
Die Wohnung hatte drei Zimmer, Küche und Bad, und es gab einen kleinen Balkon, der aber nach Norden ging und nie Sonne abbekam. Laura fand es nicht verwunderlich, daß Marjorie immer mehr verbiesterte. Die meisten Leute, denen man hier im Treppenhaus begegnete, machten griesgrämige Gesichter.
Jetzt war Laura jedoch viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen und Problemen beschäftigt, als daß sie sich allzu viele Gedanken wegen Marjorie gemacht hätte. Seit dem gestrigen Tag verfolgte sie gebannt alle Nachrichtensendungen im Fernsehen und im Radio. Die Schneekatastrophe in Nordengland war überall Hauptthema. Das Fernsehen zeigte Bilder, die von Hubschraubern aus aufgenommen worden waren: Man hatte den Eindruck, irgendwo am Nordpol gelandet zu sein. Endlose Schneeweiten mit einsamen schwarzen Punkten darin — Häusern oder Dörfern.
Laura, die dies gebannt und mit klopfendem Herzen verfolgte, fragte sich, woher dieses Gefühl einer Bedrohung rührte, das ständig in ihr wuchs. Sie kam sich vor wie jemand, der sein Liebstes in Stunden der Gefahr im Stich gelassen hatte. Westhill. Was sollte dem Haus passieren? Es stand unverrückbar seit über hundert Jahren und hatte alles überdauert, was an großen und kleinen Katastrophen hereingebrochen war. Aber vielleicht sah sie gar keine Gefahr für das Haus . Vielleicht sah sie eine Gefahr in den Menschen, die jetzt dort waren. Diese junge Frau mit den kühlen, forschenden Augen ...
Laura seufzte tief. Sie versuchte, sich an den letzten schlimmen Wintereinbruch dort oben im Norden zu erinnern. Es hatte einige gegeben. Den schlimmsten hatten sie kurz nach dem Krieg erlebt, 1947. Damals war Adeline, die alte Haushälterin, schon schwer krank gewesen und hatte ständig schmerzlindernde Medikamente gebraucht. Frances hatte Angst gehabt, der Vorrat an morphiumhaltigen Präparaten könnte ausgehen, ehe der Schnee taute und wieder ein Arzt zu ihnen gelangen konnte. Aber es hatte rechtzeitig zu schneien aufgehört, und schließlich waren Räumfahrzeuge bis zur Farm vorgedrungen. Es war das erste und einzige Mal gewesen, daß Laura Frances als Nervenbündel erlebt hatte.
»Meiner Ansicht nach werden Kinder heute viel zu sehr verwöhnt«, sagte Marjorie mißmutig. Unbemerkt war sie in die Küche gekommen. Sie trug einen alten, zerschlissenen blauen Morgenrock, der ihrer Mutter gehört hatte, und abgewetzte Fellpantoffeln an den Füßen. Ihre Haare waren noch ungekämmt. Sie sah älter aus als siebenundsechzig. Besonders um die Mundpartie war ihre Gesichtshaut schlaff und welk.
Laura, in ihre Erinnerungen versunken, zuckte zusammen. »Was meinst du?«
»Der Junge aus der Wohnung über mir hat offenbar ein Fahrrad zu Weihnachten geschenkt bekommen«, erklärte Marjorie. »Er fährt unten vor dem Haus damit herum. Ein Fahrrad mit allen Schikanen. Muß ja alles vom Besten sein für die jungen Leute! Dabei ist der Vater arbeitslos, und die Familie lebt von der Fürsorge ! « Sie trat ans Fenster und spähte hinunter, um die Ungeheuerlichkeit ein zweites Mal zu betrachten. Mißgünstig stellte sie fest, daß der magere, sonst immer sehr ernst dreinschauende Junge
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