Das Haus Der Schwestern
Gartengerätschaften hinweg. Der Schuppen war der einzige Ort, auf den sich Lauras Ordnungsliebe nicht erstreckt hatte. Vermutlich betrat sie ihn kaum je. Die zierliche, alte Frau hackte ganz sicher nicht selbst das Holz für ihre Kamine und war wahrscheinlich auch überfordert, den großen Garten in Ordnung zu halten. Vielleicht erledigte dies ein Junge aus Leigh’s Dale für sie, gegen ein kleines Taschengeld.
Ihr Bein streifte einen Nagel, der aus der Wand ragte, und sie konnte hören, wie der Stoff ihrer Jeans riß. Sie fluchte leise, machte einen Schritt zur Seite — und brach mit dem linken Fuß im Boden ein. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn, wobei sie mit dem Kinn hart auf eine Tischkante aufschlug und sich an den Messingstäben eines auf diesem Tisch stehenden ausrangierten Hamsterkäfigs die Wange aufschürfte. Vor Schmerz und Schreck schrie sie auf. Sie wartete einen Moment, dann hob sie die Hand und betastete vorsichtig ihren Kiefer. Offenbar hatte sie keinen Zahn verloren, und gebrochen war auch nichts, aber sie würde einen unübersehbaren Bluterguß davontragen.
»Mist!« schimpfte sie, ehe sie sich aufrappelte, umwandte und das Loch im Boden in Augenschein nahm, das sie zu Fall gebracht hatte.
Wie sie feststellte, war eines der langen Dielenbretter mittendurch gebrochen. Das Holz war recht morsch, aber zudem entdeckte sie, daß an dieser Stelle zwei Bretter nicht wie der übrige Fußboden auf hartem Lehm auflagen, sondern eine etwa zehn Zentimeter tiefe Aushöhlung überdeckten. Daher hatten sie Barbaras Gewicht nicht tragen können. Daß dort nicht früher schon jemand eingebrochen war, mußte daran liegen, daß das Holz noch nicht lange so feucht und angefault war wie jetzt und daß sehr selten überhaupt ein Mensch den Schuppen betrat, noch seltener zudem einer in diesem hinteren Bereich herumstöberte.
»Natürlich muß ich wieder der arme Trottel sein, dem es als erster passiert«, murmelte Barbara.
Sie fragte sich, ob diese Ausbuchtung im Lehmboden versehentlich entstanden oder absichtlich angelegt worden war, und tastete mit der Hand in das Loch hinein. Da sie ihre Lampe im vorderen Teil des Schuppens hatte stehen lassen, konnte sie hier hinten nur sehr schlecht etwas erkennen. Zu ihrer Überraschung stießen ihre Finger an einen Gegenstand. Etwas Hartes, Kaltes ... Sie zog es heraus und hielt eine Stahlkassette in der Hand. Als sie sie öffnete, sah sie einen dicken Packen Papier, weißes Schreibmaschinenpapier, eng mit Druckbuchstaben beschrieben.
Es mußten an die vierhundert Seiten sein.
Sie saß am Küchentisch und las, als Ralph herunterkam. Sie hatte ihn nicht gehört und schrak zusammen, als er plötzlich auftauchte.
»Da bist du ja«, sagte sie. Sie stand auf, ging zum Herd und hob den Deckel des Topfes hoch, der darauf stand. »Die Kartoffeln sind fast fertig. Noch fünf Minuten.«
Er sah sie an und runzelte die Stirn. »Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?«
Sie faßte sich ans Kinn, aber Ralph schüttelte den Kopf. »Weiter oben. An deiner rechten Wange!«
Sie hatte sich stärker verletzt, als sie geglaubt hatte. Ihre Finger griffen in krustiges Blut. »Oh«, sagte sie.
Ralph fuhr sich mit der Hand durch die wirren Haare. Der graue Bartschatten hatte sich vertieft. Der Schlaf schien ihn nicht erfrischt zu haben. Er wirkte müde und hatte offenbar schlechte Laune.
»Ich habe Holz geholt und bin im Schuppen gestürzt«, erklärte Barbara, »mein Kinn dürfte spätestens morgen in allen Regenbogenfarben schillern. Ich werde aussehen wie die arme Mrs. Leigh!«
Ralph setzte sich an den Tisch und betrachtete verwirrt den Papierstapel.
»Was ist das?«
»Das ist genau das, worüber ich buchstäblich gestolpert bin, Ralph, es ist absolut faszinierend. Hochinteressant. Das ist ein Manuskript. Es war im Schuppen unter zwei Bodendielen in einer Kassette versteckt. Ein autobiographischer Roman von Frances Gray. Von der Frau, der dieses Haus...«
»Ich weiß. Was heißt autobiographischer Roman? Ein Tagebuch also? «
»Nein. Es ist wirklich in Form eines Romans geschrieben. Aber es ist Frances Grays Lebensgeschichte, oder zumindest ein Teil davon. Sie schreibt über sich in der dritten Person.«
»Du hast darin gelesen?«
»Ja. Kreuz und quer. Aber nun will ich es richtig lesen, von Anfang bis Ende.«
»Das kannst du nicht tun! Dieses... Manuskript, oder wie man es nennen will ... es gehört dir doch nicht!«
»Ralph, die Frau, die es geschrieben
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