Das Haus Der Schwestern
sehr empfindsam«, sagte Peter, » sie kommt mir immer vor wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Ich habe nie einen einsameren Menschen gesehen. Sie klammert sich wie verrückt an Westhill. Viel zu sehr, viel zu angstvoll. Dies alles hier ist ihr einziger Halt.«
Die drei Frauen sahen ihn verblüfft an. Sie hatten nicht erwartet, daß er derlei Schlüsse zog.
»Sie ist nicht einsam«, widersprach Frances, »sie hat uns!«
Er sah sie nachdenklich an, und sein Blick sagte ihr: Du kennst das doch. Du weißt, was ich meine!
»Es gibt eine innere Einsamkeit, die einen auch unter Menschen allein sein läßt«, sagte er. »Laura ist davon befallen, schon sehr lange. Hoffentlich begleitet es sie nicht über ihr ganzes Leben.«
Irgendwie fühlten sich alle ein wenig schuldbewußt. Über Lauras Probleme hatten sie nie genug nachgedacht. Sie hatten dem Mädchen gegenüber mehr Pflichten als nur die, ihm ein Dach über dem Kopf und genug zu essen zu geben.
Ihr schlechtes Gewissen veranlaßte Frances dazu, am nächsten Tag mit Laura nach Northallerton zu fahren, mit ihr zu einem Friseur zu gehen und ihr ein paar neue Kleider zu kaufen.
»Ich kann das nicht annehmen«, protestierte Laura zunächst. »Sie haben schon genug Kosten durch mich, obwohl Sie eigentlich gar nicht verantwortlich für mich sind!«
»Unsinn. Ich bin froh, daß du bei uns lebst, Laura, und ich erfülle dir gern ab und zu einen Wunsch. Also — du willst dir wirklich die Haare abschneiden lassen?«
Laura blieb bei ihrem Vorhaben. Der Friseur musterte ihr rundes Gesicht mit den Pausbacken und versuchte, ihr diesen Wunsch auszureden, aber er hatte damit keinen Erfolg. So schnitt er ihr einen Pagenkopf und mühte sich vergeblich, ihrem feinen Haar ein wenig Fülle zu geben.
»Ihr Haar ist weich und dünn wie das eines Babys«, sagte er. »Sie werden wahrscheinlich immer Probleme damit haben. Aber da kann man nichts machen!«
Laura betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht wirkte noch dicker als vorher. Aber erstaunlicherweise war sie zufrieden mit sich.
«Jetzt sehe ich endlich nicht mehr wie ein Schulmädchen aus«, sagte sie.
In den Zeitungen erschien Peters Bild nicht mehr, und niemand rührte mehr an die Geschichte, aber alle wußten, daß die Gefahr deshalb nicht gebannt war. Es konnte Peter nicht gelingen, das Land zu verlassen, ebensowenig konnte er es riskieren, in ein Dorf oder eine Stadt zu gehen und sich Arbeit zu suchen.
»Es kann Sie jederzeit jemand erkennen«, warnte Frances, »und selbst wenn das nicht geschieht: Wie sollten Sie irgendwo in England leben und arbeiten ohne Papiere? Sie müssen noch eine Weile untergetaucht bleiben!«
»Es macht mich verrückt«, sagte er, »ich stelle eine ständige Gefahr für Sie alle dar!«
»Denken Sie nicht darüber nach. Wir haben Sie gern bei uns.«
Es stimmte: Sie vermochten sich ihr Leben kaum mehr ohne ihn vorzustellen. Er half, wo er nur konnte. Sein Charme und seine Fröhlichkeit heiterten sie an trüben Tagen auf. Seine eigenen Sorgen verbarg er und bemühte sich stets, ein fröhliches Gesicht zu zeigen. Nur manchmal konnte Frances sehen, daß es ihm schwer ums Herz war: Wenn er vor dem Radio saß und den Nachrichten vom Krieg lauschte. Dann schien sein Gesicht schmal und grau vor Sorge, und auf seiner Stirn bildeten sich zwei steile Falten, die ihn älter machten. Es sah nicht gut aus für Deutschland. Das Kriegsglück der ersten Jahre hatte sich gewendet. Die Bevölkerung litt unter den Bomben der Alliierten, nachts brannten die Städte, viele Menschen starben. An den Fronten häuften sich die Rückzugsgefechte. In Stalingrad, der großen Stadt an der Wolga, kämpfte eine ganze Armee einen verzweifelten Kampf.
»Sie müßten aufgeben«, sagte Peter, »sie müßten zusehen, daß sie aus Stalingrad wegkommen! Aber Hitler wird ihnen wieder nur seine Durchhalteparolen entgegenschleudern.«
Er äußerte jetzt häufig Kritik am Führer. Einmal hörte Frances, wie er zu Victoria sagte: »Ich glaube, er wird eines Tages als großer Verbrecher in der Geschichte der Menschheit dastehen.«
»Vielleicht ... wenn er jetzt aufgibt ...«
»Er gibt nicht auf, Victoria. Ein Mann wie Hitler doch nicht! Je schlimmer es wird, desto lauter wird er vom Endsieg brüllen. Er wird lieber ein ganzes Volk ins Verderben stürzen, als auf seinem fanatischen Weg umzukehren.«
»Glauben Sie, es wird schlimm für Deutschland?«
Es dauerte einen Moment, bis Peter antwortete. »Es wird
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