Das Haus Der Schwestern
Mutter erzählt.«
»Marguerite!«
»Ich war ja noch ein Baby, ich habe diese Phase nicht bewußt mitbekommen. Aber meine Mutter hat mir später davon erzählt. Laura kam damals immer zu ihr und nahm Privatunterricht. Sie litt unter Bulimie — heute eine sehr bekannte Krankheit und durch die Prinzessin von Wales sogar gesellschaftsfähig, aber in den vierziger Jahren wußte man wenig davon, schon gar nicht hier auf dem Land. Ich glaube nicht, daß Laura bei Frances auf großes Verständnis stieß, obwohl sich Frances sicher Mühe gab. Aber Frances war nicht der Typ Frau, der es begreift, wenn ein Mädchen abwechselnd frißt und kotzt. In erster Linie hat ein solches Verhalten sie vermutlich sogar geärgert.«
Barbara gab ihm im stillen recht. In materieller Hinsicht hatte Frances für Laura sicher sehr pflichtbewußt gesorgt, aber verstanden hatte sie das kranke, ängstliche Kind wohl nie. Marguerite hingegen...
Ihr fiel eine Stelle aus Frances’ Bericht ein: »... der einzige Mensch, dem Marguerite eine gewisse Herzlichkeit entgegenbrachte, war Laura, für die sie sich offenbar verantwortlich fühlte.« Marguerite hatte in Paris als Lehrerin junge Mädchen unterrichtet. Sie war ausgebildete Pädagogin. Sie hatte auf eine sehr professionelle Weise gewußt, wie sie mit Laura umgehen mußte.
»Meine Mutter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Laura zu helfen«, sagte Fernand. »Sie redete viel mit ihr, gewann immer mehr ihr Vertrauen. Nach Victorias geheimnisvollem Verschwinden ging es Laura psychisch schlechter denn je, was Mutter natürlich auffiel. Sie sah einen Zusammenhang mit Victorias Abwesenheit, meinte, Laura komme nicht damit zurecht, einen Menschen aus ihrer neuen Familie verloren zu haben. Schließlich wurde sie ja ständig geradezu geschüttelt von Verlustängsten. Sie brachte das Gespräch immer wieder auf Victoria — und zuletzt brach Laura zusammen. Sie erzählte alles.«
»O Gott«, murmelte Barbara.
Fernand lachte. »Das hat meine Mutter wohl auch gesagt. Sie war entsetzt und empört — vor allem, weil Frances ja einem Deutschen Unterschlupf gewährt hatte. Ihr erster Mann ist in einem deutschen KZ gestorben, wie du sicher weißt. Sie empfand Frances’ Tat als Verrat. Manchmal denke ich, das mit dem Deutschen hat sie weit schlimmer gefunden als den Mord an Victoria.«
»Aber sie ging nicht zur Polizei.«
»In erster Linie wegen Laura. Sie hätte dem Mädchen das Zuhause, das es so liebte, wieder zerstört. Und dann empfand sie wohl auch eine gewisse Loyalität gegenüber Frances. Sie hatte ihr geholfen, als sie nach Leigh’s Dale gekommen war und ein armseliges Emigrantendasein gefristet hatte. Mutter konnte ihr das nicht einfach vergessen.«
»Aber hat sie Frances erzählt, was sie wußte?«
Fernand schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat sich einfach nur immer mehr von ihr distanziert. Keine Ahnung, ob Frances das überhaupt bemerkt hat. Die lebte ohnehin ihr eigenes Leben. Sie und Laura waren hier ganz allein, nachdem auch noch die alte Haushälterin gestorben war.«
»Laura war eine junge Frau. Ich kann mir kaum vorstellen, daß es die einzige Perspektive ihres Lebens gewesen sein konnte, hier auf der Farm mit Frances zu leben.«
»Sie wollte es nicht anders. Ich erinnere mich, daß Frances irgendwann fand, Laura müsse eine Berufsausbildung absolvieren und ein bißchen selbständig werden. Sie schickte sie auf eine Sekretärinnenschule nach Darlington und mietete ihr dort auch ein Zimmer. Es wurde ein Fiasko. Laura war schließlich krank vor Heimweh und mußte nach Westhill zurückgeholt werden.«
»Sie kommt mir vor«, sagte Barbara nachdenklich, »wie ein Mensch, der nie gelebt hat.«
»In gewisser Weise«, meinte Fernand, »hat sie das auch nicht. Sie war von so vielen Ängsten geplagt, sie konnte sich gar nicht entfalten. Aber über all das habe ich natürlich als Heranwachsender gar nicht nachgedacht. Laura war einfach ein Stück Inventar der Westhill Farm — ein altersloses Wesen, das immer Augen machte, als habe es ein Gespenst gesehen. Sie war stets sehr nett. Sie machte dann eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin in Leyburn und lernte ganz anständig kochen. Sie steckte mir oft etwas zu, ein Stück Kuchen oder Reste vom Nachtisch. Sie war entsetzlich bemüht, Frances alles recht zu machen, denn sie lebte ja in einer Heidenangst, die könnte sie wegschicken. Ich glaube, Frances fühlte Verantwortung für sie, hatte wohl auch Mitleid, aber Lauras Unterwürfigkeit ging ihr
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