Das Haus Der Schwestern
es richtig ist, sie für den Rest ihres Lebens in dieser Angst zu belassen.«
»Du solltest nicht Schicksal spielen wollen, Barbara«, sagte Fernand.
»Aber das Schicksal hat mich nun einmal über diese ganze Geschichte buchstäblich stolpern lassen«, beharrte Barbara. »Irgendwie habe ich das Gefühl, ich habe damit auch eine Verantwortung zugeschoben bekommen.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Diese arme, alte Frau! Hätte sie es nicht verdient, wenigstens in den letzten Jahren, die ihr noch bleiben, etwas Ruhe und Frieden zu finden? «
»Du willst ihr sagen, daß sie nichts zu befürchten hat?«
»Ich finde es fast unmenschlich, sie weiterhin in ihrer panischen Angst wegen eines Verbrechens zu belassen, das erstens verjährt ist und für das es ohnehin immer schwierig gewesen wäre, ihr eine Mittäterschaft nachzuweisen. Ich kann nicht verstehen«, sie schlug wütend mit dem dicken Papierstapel auf den Tisch, »warum sie nicht irgendwann einmal juristischen Rat eingeholt hat! In all den Jahren!«
»Sie ist ein Mensch, der immer und in allen Fragen des Lebens nur von Furcht beherrscht wird, und Furcht ist ein schlechter Ratgeber. Sie hätte vermutlich auch jedem Juristen mißtraut, hätte gefürchtet, verraten zu werden.«
»Wie kann man nur so weltfremd sein! Ein Anwalt unterliegt der Schweigepflicht. Sie hätte ...« Barbara unterbrach sich mitten im Satz. Ihre Augen wurden groß und fragend. Sie starrte Fernand an. »Warum hast du sie nicht aufgeklärt? Du kanntest das Geheimnis. Du wüßtest, daß sie sich vor Angst verzehrt und daß diese Angst überflüssig war. Warum hast du ihr das nicht gesagt?«
Er schwieg, hielt ihrem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Und plötzlich begriff Barbara. In dem Schweigen, das zwischen ihr und Fernand lag, breitete sich die Wahrheit aus, stand schließlich scharf umrissen und aufrecht da. Die Puzzleteile fügten sich zusammen und gaben Antwort auf alle Fragen.
»Du erpreßt sie«, sagte Barbara. »Natürlich. Du hast nicht das mindeste Interesse daran, sie erfahren zu lassen, daß ihr nichts passieren kann. Ich wette, du hast ihre Angst bei jeder Gelegenheit noch geschürt, und das war sicher nicht schwer bei dieser neurotischen alten Frau, die ja, wie du sicher zu Recht vermutet hast, vorher schon von Frances Gray in einer gewissen Unsicherheit gehalten wurde; denn für Frances hätte die Sache gefährlich werden können, und sie mußte sichergehen, daß die Zeugin den Mund halten würde.«
Sie faßte sich an den Kopf. »Mein Gott, wo habe ich nur meinen Verstand gehabt! Nun ist alles klar! Deshalb ist Laura ständig in so verzweifelter Geldnot. Mir war bewußt, daß sie nicht viel Geld haben kann, aber weshalb sie in solchen Schwierigkeiten steckt, wollte mir nicht einleuchten. Aber da du ständig Schweigegeld von ihr forderst, kann sie auf keinen grünen Zweig kommen.«
Sie überlegte kurz. »Wahrscheinlich hast du ihr auch klargemacht, daß es viel zu gefährlich sei, einen Anwalt aufzusuchen. Irgend etwas wird dir schon eingefallen sein — etwa, daß dessen Schweigepflicht bei Mord endet oder aufzuheben ist, wenn sie der Strafvereitelung dient, oder etwas Ähnliches. Und falls Laura tatsächlich je etwas von Verjährung gehört hat, so hast du sicher etwas für sie erfunden — in der Art, daß sie zwar nicht mehr für das Verbrechen belangt werden könne, daß ihr aber das Haus nicht mehr gehören würde; denn es sei fraglich, ob Frances, die durch einen Mord in den Alleinbesitz gekommen war, es überhaupt legal an sie hätte vererben können!«
»Man erkennt die spitzfindige Anwältin. Ich sagte ja, du bist eine kluge Frau, Barbara.«
»Deine Mutter starb 1974. Es ist anzunehmen, daß Frances ihren Bericht danach niederlegte; denn der Prolog, den sie zuletzt schrieb und dann ihren Aufzeichnungen voranstellte, datiert aus dem Jahr 1980, wurde also unmittelbar vor ihrem Tod verfaßt. Laura bekam erst dann wirklich Angst, als sie wußte, daß dieses Buch existiert — und später natürlich, als sie erfuhr, daß es noch einen Mitwisser gibt, nämlich dich. Aber da war es zu spät. Der einzige Mensch, an den sie sich hätte wenden und der sie hätte beruhigen können, war tot: Marguerite. Sie konnte nicht mehr helfen.«
Fernand sagte nichts.
»Sie hat fast ihr gesamtes Land zu Schleuderpreisen an dich abgetreten«, fuhr Barbara fort. »Du wolltest das Land, und sie mußte es dir geben. Die lächerlich geringe Kaufsumme, die sie dafür bekommen hat,
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