Das Haus Der Schwestern
zu Boden geworfen und getreten, wohin sie nur trafen. Sie haben sie an den Haaren gerissen, und sie haben gezielt auf ihre Brüste geschlagen. Ich hatte das Gefühl, sie wollten uns umbringen.«
Phillip eilte mit dem Brandy herbei. Frances füllte das Glas und drückte es Louise in die Hand. »Hier. Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.«
Louises Finger zitterten. Sie trank den Brandy in kleinen Schlucken, und ihre Wangen bekamen einen Hauch von Farbe. »Ich werde das nie vergessen«, flüsterte sie, »nie, solange ich lebe. Wir wollen das Stimmrecht. Wir wollen ein Recht, das den Männern seit Jahrhunderten zusteht. Und dafür behandeln sie uns wie Kriminelle.«
»Hat man Alice ins Gefängnis gebracht?« fragte Frances. »Oder in ein Krankenhaus? Sie sagten, sie sei verletzt.«
»Soweit ich verstanden habe, sollte sie ins Holloway-Gefängnis gebracht werden. Ich hoffe, man wird sich dort irgendwie um sie kümmern. Sie war blutüberströmt...«
Louises Stimme schwankte wieder, und Frances schenkte ihr rasch noch etwas Brandy ein. Dann sagte sie: »Ich gehe zum Holloway-Gefängnis. Ich muß sehen, ob ich etwas für Alice tun kann.«
»Das dürfen Sie nicht!« widersprach Phillip erschrocken.
Mr. Wilson tauchte aus den Wirtschaftsräumen im Souterrain auf, die Köchin im Schlepptau. Sie brachte eine Flasche mit Jod und ein Päckchen Verbandsmull. »Was ist denn passiert?« rief sie.
»Die Polizei hat auf Frauenrechtlerinnen eingeschlagen und eine ganze Reihe von ihnen verhaftet«, erklärte Frances, »Miss Appleton hier hat auch etwas abbekommen.«
Sowohl Mr. Wilson als auch die Köchin, Miss Wentworth, lehnten die Frauenrechtlerinnen, ihre Methoden und Ziele aus tiefster Überzeugung ab; jedoch schien das mütterliche Herz der Köchin gerührt vom Anblick der blassen, regendurchweichten Frau, die wie Espenlaub zitternd auf ihrem Stuhl kauerte und auf deren Wange getrocknetes Blut klebte.
»Sie holt sich noch den Tod in den nassen Sachen!« sagte Miss Wentworth. »Sie müßte schleunigst ein heißes Bad nehmen und in ein warmes Bett gepackt werden.«
»Sie übernehmen das, Miss Wentworth«, bestimmte Frances. » Lassen Sie ihr ein Bad ein und richten Sie das Gästezimmer für sie her. Ich gehe jetzt zum Holloway-Gefängnis!«
» Nein! « riefen Mr. Wilson, Miss Wentworth und Phillip wie aus einem Mund. Doch Frances rannte schon die Treppe hinauf, um ihren Mantel zu holen.
Phillip folgte ihr. »Sie wissen doch gar nicht, wo das ist!«
» Ich nehme eine Droschke.«
» Ich fahre mit.«
»Das kommt nicht in Frage! Jemand muß hierbleiben und Tante Margaret alles erklären. Sie wird ohnehin den Schrecken ihres Lebens bekommen.«
» Wilson ist da. Und Miss Wentworth. Die werden ihr sagen, was los ist! «
»Phillip, jetzt nehmen Sie Vernunft an! « Frances zerrte ihren Mantel aus dem Kleiderschrank und einen Schal, um ihn sich um die Haare zu schlingen. »Bleiben Sie hier und beruhigen Sie meine Tante! «
Phillip stand in der Tür. Frances war in diesem Moment nicht in der Lage, es wirklich zu registrieren, aber später erinnerte sie sich dennoch, daß er zum erstenmal nicht den Gesichtsausdruck eines verletzten Kindes gehabt hatte, sondern den eines Mannes.
»Ich lasse Sie um diese Zeit nicht alleine in London herumirren, Frances. Ich komme entweder mit, oder ich lasse Sie nicht gehen! «
Sie lachte kurz auf. » Glauben Sie, ich brauche Ihre Erlaubnis? «
Aber er stand wie ein Fels dort in der Tür, und sie wußte, daß sie eine Menge Zeit verlieren würde, wenn sie mit ihm zu streiten begann.
»Dann kommen Sie mit, in Dreiteufelsnamen«, sagte sie, »ich kann mich jetzt nicht mit Ihnen auseinandersetzen!«
Er nickte. Fünf Minuten später rannten sie durch Regen und Nebel. Sie waren im Nu naß bis auf die Haut.
Es war der 18. November des Jahres 1910, und er sollte als » Schwarzer Freitag« in die Geschichte der englischen Frauenrechts-bewegung eingehen. 115 Frauen wurden an diesem Tag verhaftet, und die Polizei ging mit einer noch nie dagewesenen Brutalität gegen die Demonstrantinnen vor. Christabel Pankhurst beschuldigte später den Innenminister, Winston Churchill, das rabiate Vorgehen gegen die Frauen angeordnet zu haben; ein Vorwurf, der Churchill so entrüstete, daß er mit dem Gedanken spielte, Christabel Pankhurst wegen Verleumdung anzuzeigen.
Tatsache aber war, daß es eine Menge Verletzte gab, daß das Holloway-Gefängnis überquoll von Frauenrechtlerinnen und daß für viele Frauen
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