Das Haus der Tänzerin
Frau. Mach ihr keine Vorwürfe, weil sie das alles vor dir verborgen hat.«
47
Cerbère, März 1939
Sie kamen immer noch. Seit Wochen strömten Flüchtlinge von den Pyrenäen herunter zur französischen Grenze, in Decken gehüllt gegen den kalten Wind, der vom Meer herwehte. Freya tat für die Vorbeiziehenden, was sie konnte. Sie tauschte Brot gegen die Waffen, die die Soldaten an der Grenze abgaben. Die zitternden Mütter, die stille, dunkeläugige Kinder in den Armen hielten, Decken um die Schultern. Sie badete deren kalte, blutende Füße in dem eiskalten Wasser des Bachs. Und sie wartete Tag für Tag auf das eine, liebe Gesicht in der Menge; sie wartete auf Rosa.
Als sie durch den Korridor des alten Schlosses lief, das sie als Feldlazarett benutzten, löste sich ihre Schuhsohle ab. Sie war nun seit achtundvierzig Stunden auf den Beinen und nahm das Stimmengewirr nur noch undeutlich wahr. Vor dem Saal blieb sie stehen, suchte noch einmal die Menge ab, für den Fall, dass sie Rosa übersehen hatte. Die Menschen drängten sich um den großen steinernen Kamin und löffelten dünne Suppe aus Blechtassen. Ein Mann hielt seine kleine Tochter näher an das knisternde Feuer aus Reisig, um ihr die Füße zu wärmen. Seine Hand lag dunkel und rau auf ihrer bleichen Wade. Überall hing dieser Geruch, dieser scheußliche Geruch von Blut, Schmutz und Rauch – der Geruch der Niederlage. Als Freya die Augen schloss, spürte sie, wie die Welt wegkippte, der Korridor nachgab.
»Ich hoffe, Sie sind auf dem Weg ins Bett?«
Freya wandte sich der Frau zu, die sie angesprochen hatte. »Ja, Schwester … ich …«
»Sie sind völlig erschöpft«, sagte sie. »Sie nützen mir nichts im Operationssaal, wenn Sie sich nicht ein bisschen ausruhen.«
»Aber …«
»Ich weiß, Sie machen sich Sorgen um Ihre Freundin, aber Sie können nicht jeden Augenblick, den Sie wach sind, nach ihr suchen.«
Freya nickte und taumelte zum Schlafsaal. Eine andere Krankenschwester zog sich gerade an, Freyas altes Grammophon erklang leise, Casals spielte in der Dunkelheit eine Cellosuite.
»Du hast hoffentlich nichts dagegen«, sagte das Mädchen. »Ich konnte die Stille einfach nicht ertragen.«
Freya ließ sich vollständig bekleidet auf das Bett fallen. »Seltsam, nicht wahr«, murmelte sie, »wie sehr man sich an den Lärm gewöhnt.« Die Augen fielen ihr zu. »Mimi?«
»Hm?« Das Mädchen drehte sich um, sie hatte Haarnadeln im Mund, weil sie sich gerade ihre dunklen Strähnen feststeckte.
»Du weckst mich, wenn du sie siehst? Sie hat ein Kind, ein Baby bei sich.«
»Zeig mir noch mal das Foto von den beiden.« Sie nahm das eselsohrige Schwarz-Weiß-Bild von Rosa mit dem Baby im Garten zur Hand. »Wer ist sie? Eine Freundin?«
»Für mich gehören sie eher zur Familie«, sagte Freya, und als sie die Augen schloss, wusste sie, dass es wahr war.
Bei Sonnenaufgang erwachte Freya, weil Fäuste gegen die Tür hämmerten. Ihre Träume waren verwirrend farbig gewesen – sie war mit Tom durch die Orangenhaine gerannt, die blaue Luft duftete nach Neroli. Mit ihrem entspannten Gesichtsausdruck war es gleich wieder vorbei, als sie zu sich kam. »Ja? Herein.« Sie richtete sich auf.
»Mimi hat mich geschickt«, sagte der Junge. »Ihre Freundin …«
Freya stürzte an ihm vorbei, glitt auf der Treppe aus, rannte weiter nach draußen. In dem bleichen Licht hinter den schützenden Steinarkaden fiel Schnee und dämpfte ihre lauten Schritte. Sie rannte an einer jungen Mutter vorbei, die ihr Baby stillte, eine alte Frau schützte sie mit einer Flickendecke vor dem Wind. Über die Berghänge zog sich eine tapfer flackernde Kette von Lagerfeuern. Dort entdeckte sie eine zusammengekauerte Gestalt. »Rosa!«, rief sie laut. Die Frau blickte auf.
»Ich habe dich gefunden …« Rosa schüttelte den Kopf, als sie sich umarmten. Sie achteten darauf, das Kind, das sie sich vor die Brust geschnallt hatte, nicht zu zerdrücken.
»Ihr lebt. Gott sei Dank, ihr lebt. Wie geht es ihr?« Freya strich dem schlafenden Kind über den Kopf, die dunklen Haare fühlten sich unter ihren Fingerspitzen an wie gesponnene Seide.
»Sie friert, aber es geht ihr gut«, sagte Rosa. »Wir konnten den größten Teil der Strecke in einem Lastwagen mitfahren.«
»Komm.« Freya nahm Rosas Papiere von dem Wachposten entgegen. »Wir holen euch Decken und etwas zu essen.« Rosa löste den Tragegurt. »Rosa?« Als Rosa plötzlich traurig schaute, wurde es Freya übel. »Nein …«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher