Das Haus der Tänzerin
glatt. »Ich hatte Angst, sie für mein ganzes Leben zu verlieren.«
»Wirst du es ihr sagen?« Charles konnte sie nicht ansehen. »Wirst du ihr sagen, was ich getan habe?«
»Was wir getan haben.« Freya beruhigte ihn. »Nein, außer ich muss. Emma hat schon genug durchgemacht.«
55
London, Mai 1941
Freya lag unter den verhedderten Laken, Liberty schlief friedlich neben ihr und träumte von Valencia, von dem Tag, an dem ein feindliches Geschwader den Hafen unter Beschuss nahm. An diesem Tag fand ein Kinderfest statt. Es hatte sie berührt, dass diese Feier für die Kinder trotz des Krieges wie jedes Jahr veranstaltet wurde. Sie hatte Rosa eine Pause gegönnt und war mit Liberty zu dem Umzug mit den Figuren aus Pappmaché gegangen. Die riesigen, makabren Gesichter von Micky Maus, dem Kater Felix, Donald Duck, Sancho Pansa und Don Quijote zogen ihr durch den Kopf. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und die vielen Kinder stellten sich im Schutz der gigantischen Micky Maus unter.
Freya träumte weiter. Sie rannte, schob den Kinderwagen durch den Regen, durch die dunklen Orangenhaine. Weiter vorn sah sie Tom im Mondlicht, der auf sie wartete.
»Freya«, rief er und winkte sie zu sich. »Freya …«
»Hm?« Sie blinzelte. Das graue Londoner Morgenlicht drang ins Zimmer. Der Frühlingsregen lief an dem alten Schiebefenster hinunter.
»Freya.« Charles rüttelte sie wach.
Sie stützte sich mit den Ellbogen ab, um das schlafende Kind neben sich nicht zu wecken. »Was ist denn?«
»Du hast im Schlaf gerufen.«
»Ich habe nur geträumt, glaube ich …« Freya verdrängte die Gedanken an Tom. Nachdem aus den Monaten Jahre geworden waren, hatte sie akzeptiert, dass sie ihn verloren hatte, so wie vieles andere im Krieg. »Ich habe mich erinnert, wie sie dich ins Krankenhaus gebracht haben, an der Grenze«, log sie.
»Du warst sehr tapfer.« Charles setzte sich auf die Bettkante. »Ich hatte dich noch nie zuvor weinen sehen.« Er dachte an den Augenblick. »Sogar ich habe ein bisschen geweint, als sie mir den Arm abgenommen haben.« Er lächelte traurig. »Man gewinnt seine Gliedmaßen ja doch irgendwie lieb. Na ja, wenigstens bin ich nicht bei den anderen im Waschhaus gelandet.«
Freya stupste ihn an. Sie betrachtete Liberty, die sich im Schlaf bewegte. »Wie auch immer. Sie hat jetzt nur noch uns. Ich möchte so gerne, dass sie eine richtige Familie hat, wenn sie aufwächst, so wie wir. Auch wenn wir Mummy und Daddy verloren haben, wir hatten viele glückliche Momente, an die wir uns erinnern konnten.« Sie strich dem schlafenden Kind über den Kopf. »Wir wussten immer, wer wir waren, woher wir kamen.« Freya sah Charles an. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie in Sicherheit ist. Wie wäre es, wenn ich sie offiziell adoptiere …«
»Frey, du musst dir keine Sorgen machen.«
»Aber ich habe mit einem der Mädchen von der Arbeitsgemeinschaft für baskische Kinder gesprochen. Die verdammten Faschisten holen sich die Flüchtlingskinder, Charles. Was sollen wir tun? Was ist, wenn sie Liberty holen wollen?«
»Was können wir denn tun?« Charles runzelte die Stirn.
»Ich dachte – vielleicht das Häuschen in Cornwall …«
»Das ist kaum bewohnbar, Frey. Es war das Einzige, was wir uns mit dem letzten Rest unseres Erbes noch leisten konnten. Ich habe es für die Zukunft gekauft, aber wir haben noch kein Geld, um es wieder herzurichten.«
»Charles, im Vergleich zu den Bedingungen, unter denen wir in Spanien gelebt haben, wird es uns vorkommen wie ein Palast.«
»Du meinst, du denkst daran, wegzugehen?«
Freya hörte an seiner Stimme, wie sehr ihn das kränkte. »Es wäre nicht für immer, Charles. Und außerdem könntest du auch mitkommen.«
»Nein, einer von uns muss arbeiten, und damit wäre ich als Fischer nicht sehr nützlich.« Er blickte auf seinen fehlenden Arm und dachte einen Augenblick nach. »Ich widme mich wieder meinen Schmetterlingen. Für das Netz braucht man wenigstens nur einen Arm, und ich bin sicher, mein altes College würde mich wieder als Dozenten beschäftigen. Ich schreibe Imms.« Er sah Freya an. »Du warst so unglaublich tapfer, Frey. Alles wird gut, das verspreche ich dir. Ich sorge für euch beide.«
56
Valencia, Januar 2002
Der Wagen wurde durch den Operationssaal geschoben, die Räder quietschten auf dem Linoleum. Emma betrachtete die Lichter, die über ihr flackerten.
»So, Emma«, sagte der Anästhesist freundlich, »entspannen Sie sich.« Er nahm ihre Arme und
Weitere Kostenlose Bücher