Das Haus der Tänzerin
umklammerte das Messer fester. »Vielleicht war er nicht gut genug, um den Kugeln der Nationalisten aus dem Weg zu springen.«
»Nicht.« Rosa fiel in sich zusammen.
»Wenn er der Beste war, warum hat er dich geschwängert und dann hiergelassen? Warum hat er sich töten lassen?« Vicente nahm ihre Hand. »Wenn er besser ist als ich, warum hat er dich dann nicht geheiratet?«
»Er hat mich gefragt«, sagte sie leise, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie warf einen kurzen Blick zu Freya. »Wenn Sie hier wohnen, dann ist es vielleicht besser, wenn Sie verstehen. Jordi, Vicentes Bruder, wurde in Jarama getötet.« Sie zeigte auf ein gerahmtes Bild von Jordi und Vicente auf der Anrichte. Freya hatte noch nie ein so ungleiches Brüderpaar gesehen.
»Das tut mir sehr leid.« Jordi del Valle, dachte Freya. Woran erinnert mich der Name?
»Mein Bruder hat seine Frau alleingelassen, mit einem Baby, also kümmere ich mich um sie.«
Das glaube ich gerne, dachte Freya und zwang sich zu einem verständnisvollen Lächeln.
»Rosa sagt, sie braucht keinen Ehemann, aber ich habe sie zur Vernunft gebracht.«
Freya versuchte ihn einzuschätzen. Sie spürte Rosas Trauer und ihre Verletzbarkeit. Du wusstest genau, wann sie schwach war, und bist über sie hergefallen wie ein Raubtier.
»Wer ist jetzt dein Mann?«, sagte er.
»Du«, erwiderte Rosa. Es war kaum ein Flüstern.
»Ich höre dich nicht!«
»Du, du bist mein Mann«, wiederholte Rosa trotzig, Tränen in den Augen. Zufrieden grunzte er und nahm seine Gabel wieder in die Hand. Sie aßen schweigend. Vicente starrte entschlossen auf seinen Teller, während er den größten Teil des Schinkens und den halben Laib Brot aß. Schließlich schob er seinen Teller weg und marschierte ohne ein Wort hinaus.
»Ist er immer so bezaubernd?« Freya wartete, bis Rosa sie ansah. Beide lächelten.
»Vicente fühlt sich in der Gegenwart von Frauen nicht wohl. Wenn man keine Ehefrau, Mutter oder Hure ist, weiß er nicht so recht, was er mit einem anfangen soll.«
Freya räumte die Teller ab. »Nein, nein. Setzen Sie sich nur hin«, sagte sie, als Rosa helfen wollte. »Sie sollten die Füße hochlegen, wenn Sie können.«
»Danke.« Rosa ließ sich zurücksinken und rieb sich den dicken Bauch.
»Wann haben Sie denn Ihren Termin?«
»Sehr bald.«
»Ist es Ihr Erstes?« Freya wandte sich Rosa zu. »Sie sind sicher sehr aufgeregt.«
Rosa zögerte. Sie wollte gern mit jemandem reden und hatte instinktiv das Gefühl, dieser Engländerin vertrauen zu können. »Vicente …« Rosa verzog das Gesicht. »Ich habe Ihnen einen Schrecken eingejagt …«
»Nein, nein.« Freya setzte sich zu ihr an den Tisch und nahm Rosas Hand. »Bitte weinen Sie nicht. Wir machen eine schreckliche Zeit durch. Was Sie getan haben, war das Beste für das Baby.«
»Es ist so schlimm«, sagte sie.
»Wir können das sicherlich alles regeln. Wo bewahren Sie denn hier den Tee auf?«
»Tee?«
»Kamille vielleicht?« Freya ging zu dem Schrank, auf den Rosa deutete. »Ich mache uns einen Tee, und Sie können mir die ganze Geschichte erzählen. Wann kommt Ihr Mann zurück?«
Rosa lachte bitter. »Das dauert ein paar Stunden. Er ist ins Café, um sich zu betrinken.«
Freya holte zwei Tassen heraus. »Bestens. Dann haben wir genügend Zeit, um die Welt in Ordnung zu bringen. Fangen Sie doch ganz von vorn an und erzählen mir, wie Sie in dieses Durcheinander geraten sind.«
Rosa erzählte bis spät in die Nacht. »Das Komische ist, ich habe nie gespürt, dass er nicht mehr da ist«, sagte sie.
»Wer? Jordi?« Freya nahm einen Schluck Tee.
»Ich spüre ihn hier.« Sie ballte die Faust über dem Herzen. »Manchmal sehe ich Dinge. Aber ich habe ihn nie sterben sehen.«
»Visionen?«
Rosa nickte. »Meine Mutter und auch ihre Mutter waren kluge Frauen, sie kannten sich gut mit Kräutern aus – wir nennen sie curanderas , aber andere sagen hechiceras zu ihnen, weiße Hexen«, sagte Rosa. »Sie haben mir beigebracht, wie man Medizin macht, um Menschen zu heilen. Sie haben mir gezeigt, wie man Kräuter und andere Pflanzen um Mitternacht sammelt.«
»Sie haben also auch die Gabe?«
» Sí . Ich bin eine von zweien – ich hatte eine Zwillingsschwester, die starb, als wir noch Babys waren.« Rosa hielt inne. »Und ich habe das hier.« Sie zog die Ärmel ihrer schwarzen Jacke zurück und zeigte Freya ihre Finger, die schmal waren wie die eines Kindes. Neben den kleinen Fingern waren bleiche Narben zu sehen. »Es
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