Das Haus der tausend Blueten
ihrem Bauch zu lindern, als um ein Friedensangebot zu machen. Sie sahen sich an. »Ich bin fast einundvierzig.«
»Und ich bin vierundsechzig. Kein junges Gemüse mehr. Habe die besten Jahre schon hinter mir.«
»Die hattest du schon hinter dir, als Churchill geboren wurde.«
Ihre Mutter sah in die Runde, wandte sich wieder an ihr imaginäres Publikum. » Cha! Seht ihr, wie sie mit mir spricht?«
»Die Wahrheit ist doch, dass ich viel zu alt bin, um noch einen Mann zu finden. Ich hätte weiß Gott gern jemanden, der mir zur Seite steht, jemanden, der mir im Restaurant hilft. Der mir hilft, die Hunde zu versorgen.« Jemanden, mit dem ich wilden Sex haben kann. »Aber wer interessiert sich denn in meinem Alter noch für mich?«
»Großonkel Loo hat mit vierundachtzig noch eine Frau geschwängert, aahh!«, schnaufte Onkel Hängebacke.
Lu See lächelte, ihre Mutter ebenso. Dann begannen beide zu kichern.
»Nun, vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für mich. Noch einen Toast?«
»Nein, danke.« Ihre Mutter nahm einen malaysischen Dollar aus ihrer Brieftasche und gab ihn Lu See.
»Stimmt, in deinem Alter solltest du auf dein Gewicht aufpassen.«
Katsching! Das war die Registrierkasse.
Dreißig Sekunden vor Mitternacht unterbrach Radio Malaysia sein Programm. Elvis Presley verstummte mitten in seinem Teddy Bear .
Es folgten zwanzig Sekunden Stille, bevor eine schnei dige Stimme mit Empire-Akzent beschrieb, wie am Selangor Club der Union Jack eingeholt und genau eine Minute nach Mitternacht an seiner Stelle die neue Flagge der Föderation von Malaysia gehisst wurde.
»Nach dreiundachtzig Jahren britischer Herrschaft ist Malaysia nun ein souveräner, unabhängiger Staat.«
Der Sprecher führte weiter aus, dass das Land im Commonwealth verbleiben würde. Die Commonwealth Far East Strategic Reserve würde die äußere und innere Verteidigung Malaysias weiterhin gewährleisten. Die Notstandsverordnungen blieben vorerst in Kraft. Außerdem würde eine nicht näher genannte Zahl höherer britischer Polizei- und Justizbeamter im Land bleiben, um die Übergangszeit zu organisieren.
Es war eine feuchte, drückende Nacht. Stans Hemd klebte an seinem Rücken. Er musste immer wieder den Stoff von seiner Haut ziehen. Überall um ihn herum waren Menschen auf den Straßen. Die Feiernden brannten Feuerwerkskörper ab, tranken Coca-Cola und Green Spot mit Strohhalmen und riefen: » Merdeka! Merdeka! Freiheit! Freiheit!« Die meisten von ihnen, dessen war er sich sicher, wussten nicht einmal, was dieser Begriff bedeutete.
Er bahnte sich seinen Weg durch das Durcheinander von Straßenhändlern. Erst kurz zuvor hatte er an einem Stand eine Portion otak-otak , die köstliche, in ein Bananenblatt eingewickelte Fischpastete, gegessen. Bunte Wimpel flat terten an den Straßenlaternen. An den Fenstern hatte man Lichterketten aufgehängt. Die Palmen waren mit unzähligen glänzenden Fähnchen geschmückt. Ein Malaie mit einem songkok -Hut tanzte die Straße entlang, spielte dabei auf einer Trompete. Neben ihm trommelte ein dicker Chinese mit einem Paar Essstäbchen auf einem umgedrehten Wok. Überall sangen und jubelten die Menschen. »Malaysia gehört uns allen!«, riefen sie mit Tränen in den Augen. Obwohl gerade Ramadan war, waren nahezu alle Malaien auf der Straße, schwenkten begeistert die neue Flagge ihres Landes. Nachdem sie zwischen fajr , der Morgendämmerung, und maghrib, dem Sonnenuntergang, gefastet hatten, gestatteten sie sich jetzt endlich, ausgelassen zu feiern. Autohupen ertönten, überall spielten Radios. Selbst auf den Dächern baufälliger Häuser standen Bewohner und klatschten und jubelten, während kleine Kinder auf den Schultern ihrer Eltern der Menge zuwinkten. Es war eigentlich schon längst Zeit für sie, ins Bett zu gehen, aber sie wurden von der Begeisterung der Erwachsenen mitgerissen und waren deshalb allesamt hellwach, auch wenn sie nicht wussten, warum alle so glücklich waren.
An der Petaling Street gab es noch Straßensperren, Sandsäcke und Stacheldraht. Stan stand dort, seinen Schlagstock in der Hand. Er hatte den Befehl über mehr als einhundert Polizisten, die in einer Reihe nebeneinander, an den Armen untergehakt, vor dem Independence Stadium standen. Sie bildeten eine Kette, welche die Delegierten der UMNO von den Massen schützten. Die UMNO war inzwischen die größte politische Partei des Landes.
»Um Himmels willen! Halten Sie die verdammte Kette, Sergeant!«, rief Stan.
»Ja,
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