Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
Vom Netzwerk:
zu. Die beiden Männer winkten zurück. Sum Sum spreizte ihre Ellbogen ab wie ein flatterndes Huhn und schoss mit der Kodak ein Foto nach dem anderen. Stan warf ihnen einen Handkuss zu und entblößte dabei lächelnd sein Pferdegebiss, während Aziz die rechte Hand auf sein Herz drückte und mit den Lippen stumm Sum Sums Namen formte. Sie hielten noch einen Moment inne, dann waren sie plötzlich fort.
    Als Lu See sich umdrehte und mit der Hand die Augen vor der Sonne abschirmte, fiel ihr Blick auf ebenjenen Mann, der ihr schon vor ein paar Tagen aufgefallen war. Er stand wieder neben den Liegestühlen. Auch diesmal wurde sein Gesicht von der Krempe seines Hutes verdeckt, aber sie erkannte ihn an seiner schiefen Schulter. Sie drehte sich um und zupfte Sum Sum am Ärmel. Als sie dann beide wieder zu den Liegestühlen hinübersahen, war der Mann verschwunden.
    Später in ihrer Kabine streckte sich Lu See und nahm eine Yogahaltung ein, die »Nach oben blickender Hund« genannt wurde. Nach einigen Minuten löste sie die Haltung auf, zog ihren rosa Bademantel aus Frottee an und nahm ihr Buch mit Gedichten aus Cambridge zur Hand. Doch nach nur wenigen Minuten legte sie es wieder weg.
    »Glaubst du wirklich, dass er es gewesen ist?«
    »Hatte er Gesichtsmuttermal?«
    »Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.«
    »Aber sein Schulter hat ausgesehen so, meh ?« Sum Sum zeigte, was sie meinte, und ließ ihre linke Seite nach unten sacken wie ein eingefallenes Hausdach.
    »Ja, genau so. Glaubst du, dass er es wirklich sein könnte? Ich wette, er hat sich die ganze Zeit in seiner Kabine versteckt. Vielleicht hat er ja nur darauf gewartet, dass Stan und Aziz von Bord gehen, und jetzt wird er uns holen kommen.«
    »Oder du dir das alles nur einbildet, lah . Wie kommt, dass ich Mann noch kein einziges Mal gesehen?«
    »Also, ich denke, wir sollten sicherheitshalber in unserer Kabine bleiben und auch unsere Mahlzeiten hier einnehmen.«
    Während das Wasser am Fenster der Kabine hinunterlief, dachte Lu See daran, wie Stan Farrell auf dem Kai gestanden hatte, den blauen Blazer mit den goldenen Knöpfen von der Schwüle des indischen Molochs durchnässt, der Stoff seiner weißen Leinenhose an seinen Oberschenkeln klebend. Sie wäre froh gewesen, wenn er jetzt hier bei ihr gewesen wäre.
    Sie wandte sich Sum Sum zu, die gerade im Lotossitz auf dem Fußboden Platz genommen hatte, interessiert ihre Zehenringe aus Messing betrachtete und mit den Lippen stumm die Melodie von Night and Day formte, einem Lied, das die Band oft gespielt hatte.
    »Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?«
    »Wen?«
    »Aziz.«
    Sie sah geknickt aus. » Aiyoo, viel zu sehr, lah. «
    »Ich werde Stan auch vermissen.«
    Lu See warf einen Blick aus dem Kabinenfenster auf das Hafenviertel, in dem sich unzählige Rikschas, Eselskarren und Bettler mit ihren Almosenschalen drängten. Die Rikscha-Wallahs hatten sich in wasserdichte Umhänge aus Palmblättern gehüllt. Sie konnte bereits die Straßenhändler hören, die sich vor den Toren des Taj-Mahal-Hotels versammelt hatten und mit lauten Rufen ihre Waren anpriesen, während Träger mit nacktem Oberkörper, Säcke auf den Köpfen tragend, umhereilten. Lu See stellte sich vor, wie Stan diesem überwältigenden Ansturm von Menschen gegenübertrat, jetzt, da er das Schiff verlassen hatte. Wie er dann langsam in die dahinwogende Masse eintauchte, von ihr aufgenommen wurde, bis auch sein blauer Blazer nicht mehr zu erkennen war.
    Während sie durch die Scheibe in den Regen hinausstarrte, fragte sie sich nicht zum erstem Mal, warum sie das alles tat – warum sie ihre Familie verlassen, alles aufgegeben hatte, was heilig und sicher war. Sie dachte an ihre Mutter und ihren Vater, die am Esstisch saßen, an ihre mühsame, gezwungene Unterhaltung, gefolgt von dem unvermeidlichen brütenden Schweigen. Ah-Ba, der hoch geschätzte Bankier C. M. Teoh, der lustlos in seinem Essen herumstocherte und sich dabei fragte, was seine Angestellten in der Bank wohl denken, was die Mitglieder im Turf Club über seine auf Abwege geratene Tochter sagen würden. Und ihre Mutter, halsstarrig und verletzt, die mit ihren großen Augen immer mehr einem Flughund ähnelte, nervös mit den Fingern an ihren Handflächen herumkratzte und Lu Sees Brüdern James und Peter die Schuld für Lu Sees Flucht gab, dem Dienstpersonal, der Schule − allen außer sich selbst.
    »Glaubst du, dass das, was ich gerade tue – ich meine, dass ich mich von meinen Eltern abwende

Weitere Kostenlose Bücher