Das Haus der tausend Blueten
Grund für sein Auslandsstudium? Hatte er sie eben deshalb so sehr ermutigt, die weite Reise von Malaysia nach England auf sich zu nehmen? Er würde doch nicht etwa versuchen, sie ernsthaft zur Kommunistin zu machen?
Die Fragen schossen Lu See durch den Kopf. Wie betäubt stellte sie fest, dass sich in ihrem Bauch ein dicker Knoten gebildet hatte.
Schon kurze Zeit später bestand Lu See darauf, dass sie die King’s College Chapel besichtigten. Sie wollte unbedingt die berühmte Orgel sehen, überhaupt war sie überaus begierig auf alles, was ihr dabei helfen konnte, die Aufgabe zu erfüllen, mit der Zweite Tante Doris sie betraut hatte. Sie wollte jedoch auch sehen, ob Adrians politische Radikalisierung inzwischen schon so weit fortgeschritten war, dass er sich weigerte, eine Kirche auch nur zu betreten. Sie hatte bei der politischen Versammlung mit wenig Begeisterung bis zum Ende zugehört und sich dabei immerzu gefragt, ob Adrian nicht doch nur versuchte, seine verschrobene Weltanschauung mit intellektuellen Phrasen zu beschönigen. Begriff er wirklich, was Kommunismus bedeutete? Begriff sie es überhaupt selbst? Wusste er, wie sich der Kommunismus in der Praxis darstellte?
Sie betrat mit Sum Sum die King’s College Chapel und stellte erfreut fest, dass Adrian ihnen, ohne zu murren, folgte.
In der Kapelle konnte Lu See den Staub der Geschichte, der sie umgab, förmlich riechen. Als sie zu den bunt bemalten Glasfenstern hinaufsah, brachte sie vor Staunen kein einziges Wort mehr heraus. Wunderschön, dachte sie. Sie verwandeln das Sonnenlicht in unzählige Regenbogen.
Sie standen mehrere Minuten einfach nur da und bewunderten die unteren Fenster der Nordseite. Sie zeigten Momente aus dem Leben Jesu. Die oberen Fenster hingegen stellten Szenen aus dem Alten Testament dar. Dann gingen sie zum Altar hinüber, um Die Anbetung der drei Weisen aus dem Morgenland von Rubens zu betrachten. Schließlich erinnerte sich Lu See wieder daran, weshalb sie hierhergekommen war. Sie setzte sich in den Chor und bewunderte das Prinzipal der Orgel. Mehrere Minuten lang studierte sie die Pfeifen und die Röhren, die sich wie eine Zitadelle aus Kupfer über ihr erhoben.
»Können wir näher herangehen?«, fragte sie Adrian. »Ich würde mir gern den Spieltisch ansehen.«
»Nein, die Orgel ist für die Öffentlichkeit leider nicht zugänglich.«
Sie blieben noch eine Weile schweigend im Chorgestühl sitzen, bevor Adrian sie durch das mächtige gotische Fächergewölbe, in dem ihre Schritte auf dem Steinboden widerhallten, auf den Rasen des Front Court hinausführte.
»Ich habe irgendwo gelesen, dass über einhundert Jahre an der Kirche gebaut wurde«, sagte er und blickte dabei zum blauen Himmel hinauf. »Sieh dir nur diese Strebepfeiler an. Allein diese Konstruktion ist über dreißig Meter hoch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Aussicht man von dort oben hat.«
Sum Sum interessierte sich weder für die gotischen Fächergewölbe noch für die Strebepfeiler.
Wenn das nicht leichtsinnig war, lah! Eine Affäre mit einem Fremden anzufangen, einem Mann, denn ich gerade einmal neun Tage lang gekannt habe, jemanden, den ich niemals wiedersehen werde. Was habe ich mir dabei nur gedacht?
Während sie sich gestattete, ein kleines unanständiges Lächeln über ihr Gesicht huschen zu lassen, tadelte und beglückwünschte sie sich zugleich. Sie war sowohl glücklich als auch zerknirscht, dass es so weit gekommen war. Glücklich, weil sie diese heimlichen Zärtlichkeiten, diese Intimität zutiefst genossen hatte. Zerknirscht, weil sie ganz bestimmt kein leichtlebiges Mädchen war und es außerdem hasste, vor Lu See irgendwelche Geheimnisse zu haben. Sie hatte Lu See nichts davon erzählt, weil sie sich nicht sicher war, wie ihre Freundin darauf reagieren würde. Sie war davon überzeugt, dass Lu See noch immer Jungfrau war.
Nun, er hat gesagt, dass ich schöne Augen hätte, Augen, die ihn an seine geliebten Kühe – Kühe! – erinnern. Aber war das Grund genug, dass ich gleich mit ihm schlafen musste? Aiyoo sami! Aber es hat sich so wunderbar angefühlt, so viel besser als das einzige andere Mal – diese schmutzige, kaum dreißig Sekunden dauernde Episode mit Haram Yaakub, dem Verkäufer eingelegter Köstlichkeiten. Sum Sum er schauderte, als sie sich daran erinnerte.
Bis jetzt hatte sie es vermieden, Lu See etwas von ihrer Affäre mit Aziz zu erzählen. Einerseits hätte sie sich Lu See gern anvertraut, war geradezu
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