Das Haus der toten Mädchen
hergezogen sind. Haben Sie das schon vergessen?“
Sie konnte sich wirklich nicht erinnern, ihm etwas in der Art erzählt zu haben, aber was besagte das schon? „Das heißt noch lange nicht, dass ich vorher nie in Colby war. Ich könnte in dem Jahr meine Sommerferien hier verbracht haben.“
„Sie waren damals höchstens zehn“, meinte er. „Und Sie waren nicht hier, als es passiert ist. Mir das Gegenteil einreden zu wollen wäre reine Zeitverschwendung.“
„Was also tun Sie hier?“ hakte sie nach.
„Ich dachte, Sie hätten das alles schon herausgefunden. Sie glauben also, ich wäre ein Journalist, der Informationen über ein uraltes Verbrechen sammelt. Allerdings ist mir schleierhaft, warum ein Reporter sich für solch eine alte Geschichte interessieren sollte.“
Sophies Lieblingshypothese hatte den ersten Knacks bekommen und begann zu zerbröseln. „Weil der Fall ungelöst ist. Von ungesühnten Verbrechen bekommen die Leute nie genug. Außerdem hat die Story alles, was Quote bringt: Sex, Drogen und Mord.“
„Die Leute mögen Morde im Allgemeinen nur, wenn auch Geld und Prominenz im Spiel sind, und von einem verschwundenen Schatz oder einem berühmten Politiker habe ich hier noch nichts gehört. Und wie kommen Sie darauf, dass der Fall ungelöst ist? Dass der Bursche letzten Endes wegen eines Formfehlers entlassen werden musste, ändert nichts daran, dass alle ihn für schuldig halten. Schon deshalb, weil er ein böser Junge war. Das haben alle behauptet, die dabei gewesen sind. Und es ist auch so schön bequem für die guten Bürger von Colby, dass der Mann, der ihre Töchter umgebracht hat, ein Fremder war und kein Nachbar.“ In seiner Stimme schwang eine Bitterkeit mit, die sie sich nicht recht erklären konnte.
„Tja, aber irgendetwas muss an der Sache noch offen sein, sonst wären Sie nicht hier“, entgegnete Sophie unbeirrt.
„Und wie sind Sie darauf verfallen, dass ich Reporter bin? Habe ich etwas Verräterisches geäußert? Oder getan?“
„Das sagt mir der gesunde Menschenverstand. Ich habe Ihre Bettlektüre gesehen: Normale Leute vertreiben sich die Zeit vorm Einschlafen nicht mit Büchern über Serienmörder.“
„True-Crime-Bücher erreichen riesige Auflagen. Schauen Sie sich nur einmal die Bestsellerlisten an.“
„Also schreiben Sie ein Buch“, schloss sie messerscharf. „Das hätte ich mir denken können. Wahrscheinlich haben Sie einen Millionen-Dollar-Vorschuss kassiert und würden jetzt für einen Knüller über Leichen gehen.“
Er bog in eine Seitenstraße ab, die vom See fort führte. Seine Miene wirkte undurchdringlich, soweit sie das bei ihren kurzen, unauffälligen Seitenblicken beurteilen konnte. Sie wollte sich von ihm nicht dabei erwischen lassen, dass sie ihn anstarrte, obwohl sie zu gern herausgefunden hätte, was an ihm sie dermaßen irritierte.
„Klingt so, als hätten Sie alles herausgekriegt“, sagte er, während er sich auf die schmale Schotterstraße konzentrierte. „Wenn Sie so gut darin sind, Geheimnisse aufzudecken, dann sollten vielleicht
Sie
das Buch schreiben.“
„Ich mag solche Sachen nicht“, meinte sie reserviert. „Ich kann mich nicht an anderer Leute Schmerz ergötzen. Wenn ich etwas über die Colby-Morde gewusst hätte, wäre ich vielleicht gar nicht hierher gezogen.“
„Nach einer Stadt, die keine derartigen Leichen im Keller hat, hätten Sie verdammt lange suchen müssen.“ Seine Stimme war völlig emotionslos, aber die Vorstellungen, die seine Worte wachriefen, ließen Sophie erzittern. „Solche ländlichen Friedensoasen sind immer Scheinidyllen.“
„Eine ziemlich zynische Sicht der Dinge. Wenn Sie weder Reporter noch True-Crime-Autor sind, was dann? Und, ganz nebenbei, wohin fahren wir eigentlich?“ Sie verspürte einen ersten Anflug von Unbehagen. Was, zum Teufel, tat sie hier: allein im Auto eines völlig fremden Menschen, der in ihr wilde Fantasien auslöste? Die Kings hatten sie wahrscheinlich wegfahren sehen: Wenn sie verschwand, würden sie bezeugen, dass …
„Ich fürchte, Sie glauben mir ohnehin nichts“, sagte er in ihre aufkeimende Panik hinein. „Ich mache hier Urlaub und suche Ruhe und Abgeschiedenheit. Keine alten Damen, die mitten in der Nacht meinen Kühlschrank plündern, und keine Übermütter, die mich mit Keksen mästen.“
„Übermütter?“ Schlagartig wichen ihre Befürchtungen gerechtem Zorn. „Ich bin nicht einmal verheiratet.“
„Was für eine Überraschung“, murmelte er
Weitere Kostenlose Bücher