Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
bekommst du Ärger«, sagt der erste Mann ungerührt und mit schmalen Lippen. Er hält ihr den dicken, schmutzigen Zeigefinger direkt vors Gesicht, und Cat schlägt ihn mit der Hand beiseite. In diesem Moment sorgt ein schriller Schrei vom Podium ganz kurz für Stille. Die Rednerin blickt entsetzt auf ihren weißen Rock hinab, der jetzt mit rotem Saft befleckt ist. Jemand aus der Menge hat sie mit fauligen Tomaten beworfen, und an dem feinen Musselin kleben schwarze Samen, rote Hautfetzen und Fruchtfleisch.
»Guter Wurf!«, brüllt ein Mann und erntet Gelächter.
»Also wirklich, ich …« Die Rednerin ist ins Stocken geraten. »Ich habe das Recht, hierherzukommen und zu euch zu sprechen, also spreche ich!« Sie hat sich ein wenig gefasst, doch ihre Stimme klingt nicht halb so mutig wie ihre Worte.
Cat drängt sich durch die Wand aus Menschen, und als sie auf das Podium klettert, fliegen weitere Geschosse. Eier landen mit schmatzendem Knirschen, und eines trifft Cat am Arm, als sie sich aufrichtet. Keuchend wirft sie der Fremden neben sich einen Blick zu. Das Gesicht der Frau wirkt verkniffen und erschrocken, und ihr Blick huscht ner vös zwischen Cat und ihrem Publikum hin und her. Cat greift nach ihrer Hand, wendet sich der Menschenmenge zu und bietet der Verachtung die Stirn.
»Schämt euch! Ihr alle solltet euch schämen! Wir haben keine Angst vor euch! Ihr dürft nicht erwarten, dass wir weggehen, nur weil ihr Beschimpfungen brüllt! Wir sind keine kleinen Kinder!«, schreit sie. Dann duckt sie sich, als noch mehr faules Obst geflogen kommt und eine leere, klebrige braune Bierflasche. »Das also ist eure Antwort, wenn eine Frau für ihre Überzeugungen eintritt? Attackiert sie! Tut ihr weh! Zweifellos springt ihr mit euren Frauen und Töchtern genauso um, denn nur so können Männer ihre unrechtmäßige Herrschaft über die Frauen aufrechterhalten!« Ihre Stimme wird immer lauter und klingt heiser vor Wut. Die Rednerin hängt verblüfft an ihrer Hand.
»Unsere Frauen sind zu vernünftig, um in aller Öffentlichkeit herumzuschreien über Dinge, von denen sie nichts verstehen!«, ruft ein Mann zu ihr herauf.
»Wie könnten sie auch etwas davon verstehen? Wie sollen sie etwas über Politik, Bildung und ihre Rechte lernen, wenn sie all ihre Zeit im Haus verbringen und ihren Verstand bei Hausarbeit und Kindererziehung vergeuden?«, fährt Cat hoch.
»Wer sollte das denn sonst machen? Ihre Männer etwa?« Großes Gelächter.
»Nun hören Sie …«, versucht die Rednerin einzuwerfen, aber Cat drückt fest ihre Hand.
»Und warum nicht, zum Teufel?«, brüllt sie. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es hagelt Wurfgeschosse und Beleidigungen, und Cat versteht in dem vielstimmigen Chor von Beschimpfungen ihr eigenes Wort nicht mehr. Sie weiß trotzdem, dass sie weiterschreit, denn ihre Kehle tut weh, und die Rednerin versucht sich loszurei ßen, doch Cat gibt ihre Hand nicht frei. Irgendwo hinter dem Höllenlärm hört sie Polizeipfeifen schrillen, und dann klatscht eine tote Ratte an ihre Beine. Die Augen des Tieres sind stumpf, die Zunge ein vertrockneter Kringel zwischen gebleckten Zähnen. Die Fliegen lassen sich beinahe augenblicklich wieder auf dem braunen, mit Schmutz verklebten Fell nieder. Der Kadaver stinkt ekelhaft süßlich und so stark nach Verwesung, dass Cat einen Moment lang die Luft anhalten muss und die Zähne fest zusammenbeißt, um den Gestank nicht einzuatmen.
»Grundgütiger.« Die Rednerin zittert, alles Blut weicht ihr aus dem Gesicht. Ihre Augen rollen im Kopf zurück, und sie setzt sich schwer aufs Hinterteil, die Beine wenig elegant gespreizt. Lacher dringen aus der Menge herauf, und Cat knirscht vor Wut mit den Zähnen. Sie tritt die Ratte beiseite, bückt sich, hebt so viel Gemüse und geplatzte Eier auf, wie sie kann, und schleudert sie in die Menge zurück, zusammen mit einem Schwall zorniger Beschimpfungen. Mit der Bierflasche zielt sie auf den Kopf eines Mannes, der dasteht und Tränen lacht, sodass er sich hastig ducken muss. Die Flasche zerspringt hinter ihm auf der Straße, und er zuckt zusammen, als ein Splitter seine Wange trifft und eine winzige Schnittwunde hinterlässt.
»Dir soll das Lachen noch vergehen, du Dreckskerl!«, brüllt Cat ihn an. Sie macht weiter, solange sie kann, Beleidigungen und Wurfgeschosse fliegen zwischen ihr und der johlenden Menge hin und her, bis sie von schweren Händen gepackt und weggeschleppt wird, obwohl sie sich windet
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