Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wie eine Schlange.
Cats Oberarme tun weh, und sie befühlt sie vorsichtig. Als sie ihre Ärmel aufkrempelt, findet sie darunter Blutergüsse in der Form von Fingerspuren. Ihre Haut ist damit übersät wie von Pestmalen. Die Arrestzelle in der Polizeiwache ist kühl, die Wände sind aus dicken Ziegeln gemauert und mit cremeweißer Farbe bedeckt, die hier und da Krater und Risse hat. Doch Cat kann dieser Pause von der unerträglichen Hitze nichts abgewinnen. Sie kann sich nicht einmal darum sorgen, dass sie ihre Stellung im Pfarrhaus verlieren könnte, dass sie alles aufs Spiel gesetzt hat, indem sie derart die Beherrschung verloren hat. Sie kann nichts tun als auf dem harten Holzstuhl sitzen und zu dem winzigen Fenster mit der schmutzigen Glasscheibe hinter einem starken Drahtgeflecht hinaufschauen und ihre Gedanken fortschicken, weit fort, um nicht in Panik zu geraten. Sie muss irgendwo anders sein, ganz gleich, wo, nur nicht in einer Zelle eingesperrt. Bittere Galle brennt in ihrer Kehle, kalter Schweiß rinnt zwischen ihren Brüsten hinab über den Bauch und sickert in den Bund ihres Rocks. Wenn sie aufmerksam bliebe, wenn sie ihr Eingeschlossensein zur Kenntnis nähme, könnte sie den Verstand verlieren. Sie würde innerlich ausbrennen wie ein Streichholz, in einem einzigen Augenblick schierer Angst, und dann wären nur noch verkohlte Reste von ihr übrig. Konzentriert runzelt sie die Stirn und gibt sich alle Mühe, in ihrem Geist an einem anderen Ort zu sein. An jedem Ort, nur nicht hier …
Sie ist in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, und sie tragen ihre Mutter die Treppe hinunter zu dem wartenden Leichenwagen. Cat hat zunächst niemandem gesagt, dass ihre Mutter gestorben ist. Sie wusste nicht, was sie danach tun sollte – sie wollte einfach nicht, dass ein neues Leben ohne ihre Mutter begann. Die hatte ihr gesagt, dass jemand kommen und sie abholen würde, wenn die Zeit gekommen war. Cat hatte sich gewunden und versucht, sich abzuwenden, doch ihre Mutter war beharrlich geblieben, obwohl ihre Augen fiebrig glänzten, das Weiß darin ganz grau geworden war und die Pupillen in dem dunklen Zimmer riesig weit.
»Nein, du musst mir zuhören. Das ist wichtig. Wenn meine Zeit gekommen ist, wird jemand dich abholen. Du musst mit der Frau gehen und tun, was man dir sagt. Verstehst du das? Ich habe alles vorbereitet. Das ist das Beste, was ich für dich tun kann. Dort werden sie sich um dich kümmern. Der Herr des Hauses …« Ihre Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, verstummte, und sie kämpfte gegen einen heftigen Hustenanfall an. Cat wünschte sich so sehr, dass es ihr ge länge, ihn abzuwenden. Sie konnte die Qualen nicht er tragen, die diese Anfälle ihrer Mutter bereiteten. »Es ist ein gutes Haus. Der Gentleman, dem es …«, versuchte sie es erneut, doch diesmal unterlag sie dem Anfall, und danach war sie zu erschöpft, um weiterzusprechen. Deshalb wartete Cat, als ihre Mutter gestorben war. Sie wartete und fragte sich, was als Nächstes geschehen würde, obwohl ihr das eigentlich gleichgültig war. Am nächsten Morgen hatte eine Nachbarin vorbeigeschaut und sie ganz allein gefunden, und nachdem die Leute ihre Mutter hinausgetragen hatten, erschien tatsächlich eine fremde Frau in der Tür. Sie trug einen eng geknöpften schwarzen Mantel, und das starre Gesicht unter dem stahlgrauen Haar sah aus, als hätte es im ganzen Leben noch nie gelächelt.
»Du musst jetzt mit mir kommen, junge Dame. Verstehst du das?«, fragte sie. Cat nickte stumm. »Das hat deine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, für dich arrangiert. Geh jetzt und pack deine Sachen. Um den Rest werden sich andere kümmern. Nun geh schon«, sagte die Frau. Cat wollte nicht. Sie wollte mit ihrer Mutter gehen, selbst wenn die in einer Kiste weggeschlossen war, und obwohl ihr Körper so leer und still und ganz falsch war. Cat wollte nicht mit dieser Frau gehen, deren Gesicht so scharf war wie ein Beil und die einen schmalen, tadelnden Mund und Spinnenhände hatte. Mrs. Heddingly. Aber ihre Mutter hatte es ihr gesagt, also ging sie mit …
Als einige Zeit später die Zellentür geöffnet wird – Cat kann nicht einmal raten, wie viel später –, unterbricht sie ihren Tagtraum nicht. Erst als der Wachtmeister an ihrer Schulter rüttelt, so vorsichtig, als könnte sie explodieren, blinzelt sie. Sie wendet den Kopf und hört ihn sprechen.
»Nun machen Sie schon, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Oder wollen Sie vielleicht lieber hier drin
Weitere Kostenlose Bücher