Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
angefühlt wie ihre eigene. Sein Gesicht ist herzförmig geschnitten, mit markanten Wangenknochen und sanft gewölbten Brauen, und am Kinn deutet sich ein Grübchen an. Sein Haar ist dunkelbraun, und er trägt es recht lang, ganz weiche, ungebändigte Locken – jungenhaft und ein wenig derangiert. Er hat hellbraune Augen in der Farbe von reinem Karamell und trägt keinerlei Spuren des Alters an sich. Hester blinzelt und erkennt bestürzt, dass sie ihn offen angestarrt hat. Sie spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt, und ihre Kehle ist merkwürdig trocken.
»Genau genommen drehte sich mein Vortrag nicht um die Theosophie im Allgemeinen, sondern um das Phänomen der Naturgeister. Dieses Thema interessiert mich ganz besonders und ist gewissermaßen mein Fachgebiet«, erklärt Robin Durrant.
Hester blinzelt erneut und weiß einen Augenblick lang nicht, was sie sagen soll. Sie ist ganz durcheinander. »Ja, natürlich«, bringt sie schließlich hervor. »Möchten Sie nicht Platz nehmen? Ich lasse uns gleich den Tee bringen.« Sie weist auf einen Sessel.
»Danke. Sehr freundlich.« Mr. Durrant zeigt ein weiteres Lächeln, und Hester erwidert es. Ja, es wäre schwer, Robin Durrant nicht anzulächeln.
»Ich nehme an, Ihr Mann geht seinen Pflichten in der Gemeinde nach?«, erkundigt sich Robin einige Minuten später, als Hester ihm eine Tasse Tee reicht.
»Ja. Er bemüht sich stets, die Vormittagsstunden in der Kirche zu verbringen. Offenbar finden die Gemeindemit glieder da am besten Zeit, ihn aufzusuchen, wenn sie ihn brauchen. Und falls er nicht dort ist, streift er durch den gesamten Pfarrbezirk und macht Besuche …«
»Kümmert sich um seine Schäfchen, wie es sich für einen guten Hirten gehört«, vermutet Robin Durrant und zieht dabei eine Augenbraue leicht in die Höhe.
»So ist es«, entgegnet Hester. »Und Sie kommen aus Reading, soweit ich weiß?«
»Das stimmt. Meine Eltern leben noch dort, in dem Haus, in dem meine Brüder und ich aufgewachsen sind. Natürlich haben meine Geschwister die Gegend längst aus beruflichen Gründen verlassen. Nur ich bin dem Nest so nah geblieben.«
»Oh, Ihre Mutter freut sich gewiss sehr darüber, Sie in ihrer Nähe zu haben«, sagt Hester. »Es muss sehr schwer für eine Mutter sein, wenn alle ihre Kinder irgendwann ausflie gen. Bildlich gesprochen, natürlich. Was tun Ihre Brüder denn beruflich, das sie von zu Hause fortführt?«
»Nun ja.« Robin Durrant setzt sich in seinem Sessel zurecht, und ein merkwürdiger Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Mein älterer Bruder William ist beim Militär. Er hat eine hervorragende Offizierskarriere eingeschlagen und wurde erst kürzlich zum Oberst befördert.«
»Du meine Güte! Er muss ein mutiger Mann sein. Aber Ihre Familie ist doch gewiss immer in Sorge … war er denn schon im Kriegseinsatz?«
»Ja, allerdings. Tatsächlich war es eben der erwähnte Mut, den er in Südafrika bewies, der zu seiner Beförderung führ te. Er wurde sogar mit einer Tapferkeitsmedaille ausge zeichnet.«
Hester reißt anerkennend die Augen auf. »Das klingt ja ganz nach einem echten Helden«, sagt sie.
»Heldenhaft ist er, und beinahe kugelsicher, wie es scheint. Er wurde im Lauf seiner Karriere schon dreimal verwundet – zweimal durch Pfeile und einmal durch einen Ge wehrschuss, doch er steht immer wieder auf, als könnte ihm das alles nichts anhaben!« Robin lacht kurz auf. »In der Familie heißt es schon scherzhaft, er müsse bei Manövern den Bürzel schön tief halten. Zweimal nämlich war die erlittene Verletzung der typische Wildererschuss.«
Hester nickt vage, ohne ihn recht zu verstehen. »Von Pfeilen getroffen! Du meine Güte, dass die Welt noch von solchen Wilden bevölkert ist!«, haucht sie. »William muss das Herz eines Löwen besitzen.«
»Mein jüngerer Bruder John hat vor nicht ganz drei Jahren das Medizinstudium in Oxford mit einem hervorragenden Examen abgeschlossen. Derzeit ist er in Newcastle, er hat eine neue Operationsmethode für die Entfernung der … Was war das gleich, die Milz? Es will mir im Moment nicht einfallen. Nun, jedenfalls irgendeines Organs entwickelt«, en det er mit einer unbekümmerten Geste.
»Ich muss schon sagen, Ihre Familie leistet ganz Außerordentliches!«, ruft Hester bewundernd aus. »Und ist Ihr Vater ebenfalls ein bedeutender Mann?«
»O ja. Er hat über vierzig Jahre in der Armee gedient und war lange Gouverneur in Indien, bis seine Gesundheit ihn zwang, in unser
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