Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Bereitschaft blieb. Über Handys würde man in der Tiefe nicht kommunizieren können, doch die Funkgeräte, die Griffin gekauft hatte, konnten mit etwas Glück funktionieren.
»Lass dir Zeit, Jac. Ich bin bei dir.«
Jac atmete tief ein und spürte den trockenen, abgestorbenen Gerüchen nach. Dann blickte sie in den Schacht. Ihre Stirnlampe beleuchtete das Mauerwerk viel besser als die Kerze am Abend davor. Das machte den Abstieg, der vor ihr lag, allerdings nicht weniger bedrohlich.
Griffin verharrte dort unten auf den Stufen, blickte hoch und versuchte, ihr Mut zu machen. Unter ihm die vollkommene Finsternis. »Ich sichere dich ab«, sagte er. »Tu einfach den ersten Schritt.«
»Wie weit ist es bis zu dir?«
»Ich habe vierzig Stufen gezählt. Nimm einfach eine nach der anderen. Ganz in Ruhe. Du schaffst das schon.«
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jede dieser Stufen war eine Kante. Ein ins unermessliche verlängerter, gesteigerter Auslöser ihrer Phobie, die sie leicht in eine ausgewachsene Nervenkrise stürzen konnte. Jac hatte in jahrelangen Therapien ihre eigene Seelenlandschaft erkundet und wusste, wie sie die Gefahrenzonen umgehen musste. Sie hatte gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen, hatte sich Tricks angeeignet. Aber würden sie auch funktionieren?
Einatmen. Riechen. Die Gerüche analysieren.
Kreide.
Eine Stufe.
Erde.
Noch eine Stufe.
Als sie die ersten zwei Meter bezwungen hatte, kletterte Griffin weiter.
»Ich bin unten«, rief er nach einer Weile. Seine Stimme hallte hohl, fast unmenschlich verzerrt von den Wänden wider.
Jac fröstelte und sah hinab. Griffins Stirnlampe erleuchtete den Grund des Schachts. Jac konnte die Entfernung nicht einschätzen; es verblüffte sie, wie weit entfernt er zu sein schien.
»Wie viele Stufen sind es?«
»Fünfundsiebzig.«
Wie viele hatte sie schon geschafft? Sie hatte nicht mitgezählt. Fünfundsiebzig waren viel zu viele.
»Du bist schon bei der vierzigsten«, rief Griffin, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Noch fünfunddreißig.
Lehm.
Vierunddreißig.
Staub.
»Es ist hier ziemlich schlammig. Pass auf, wenn du unten ankommst«, sagte Griffin, als sie bis acht heruntergezählt hatte.
Schweißnass und mit wild pochendem Herzen setze Jac die Füße auf den Grund und sah sich um. Der Raum, in dem sie gelandet waren, hatte einen Durchmesser von anderthalb Metern und war von allen Seiten von grob behauenen grauen Kalksteinblöcken umschlossen.
Sobald sie sich ein wenig beruhigt hatte, schnupperte sie, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, das Parfüm der Treue zu finden.
Nichts, keine Spur.
»Schätze, wir müssen hier durch.« Griffin zeigte auf eine schmale Öffnung.
Jac trat näher heran. Der Spalt war keinen halben Meter breit und zerklüftet.
»Das sieht eher wie ein Riss aus. Meinst du wirklich?«
»Außer dem Schacht nach oben gibt es keinen anderen Weg hier raus. Ich gehe vor.«
Drei Sekunden darauf rief er: »Alles klar, komm durch. Aber pass auf, die Steine sind sehr rau.«
Jac stieg durch den Riss. Er mündete in einen Tunnel, der zu schmal war, um nebeneinander zu gehen. Griffin schritt voraus. An mehreren Stellen mussten sie sich drehen und sich mit demRücken zur Wand seitwärts voranschieben. Trotzdem streifte der Fels der anderen Wand ihre Gesichter.
Die Ruhe dieses Ortes war überwältigend. Außer ihren Atemgeräuschen und Schritten gab es absolut nichts zu hören. Jac hatte noch nie eine so vollkommene Stille erlebt. Doch sie war alles andere als beruhigend. Selbst wenn die Welt unterging, würden sie hier nichts davon merken.
Nach etwa hundert Metern führten zwei uralte Steinstufen zu einem Absatz hoch, über dem sich die Decke plötzlich drei Meter hoch wölbte. Dahinter ging es über zwei ähnliche Stufen wieder in einen Tunnel hinab. Er war genauso schmal wie der erste, aber mehrere Handbreit mit Wasser gefüllt. Höher als Jacs Stiefel.
»Packen wir’s?«, fragte Griffin.
Das Wasser war eiskalt. Jac spürte Schlamm unter ihren Sohlen. Ihre Jeans begannen sich vollzusaugen, und schon nach wenigen Schritten waren sie bis zu den Knien tropfnass. Schließlich erreichten sie einen Torbogen. Griffin richtete seine Stirnlampe auf den Sturz, wo jemand von Hand etwas auf den Stein geschrieben hatte.
Verblichene, ungelenke Buchstaben, die aussahen, als seien sie dort seit langer Zeit.
»Was steht da?«, fragte Griffin.
Jac übersetzte. »Der richtige Weg ist oft der
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