Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
davon aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie waren ebenso hier abgeladen worden wie die sterblichen Überreste, die sie einmal hatten identifizieren sollen.
»Ich habe so viele Gräber gesehen«, sagte Griffin. »Aber aneines werde ich mich nie gewöhnen: dass es so viele schweigende Tote gibt, deren Namen wir nie erfahren werden.«
»Als ich klein war«, sagte Jac, »hat meine Großmutter mich immer mitgenommen, wenn sie sich um die Gräber ihrer Verwandten kümmerte. Einmal im Monat brachte sie ihren Eltern Blumen oder Immergrün. Und ein Kind von ihr, das nur eine Woche lang gelebt hatte, bekam eine einzelne Blüte. Irgendwann fiel mir auf, dass es keine Grabsteine aus der Zeit vor 1860 gab. Sie erklärte mir, dass die Leichen von damals alle in den Katakomben abgeladen worden waren.« Jac wandte sich wieder den Toten zu, den endlosen Reihen von Knochen. Je genauer sie hinsah, desto mehr entdeckte sie. Ein Einschussloch in einem der Schädel. Einen Riss in einem Zweiten. Eine zertrümmerte Schädeldecke.
Irgendwo in der Ferne tropfte Wasser herab. Langsam. Gleichmäßig. Jac glaubte aus dem Rhythmus den Namen der Frau aus ihren Halluzinationen herauszuhören: Ma-rie, Marie, Ma-rie.
Dann ein zweites Geräusch.
Jac erkannte nicht gleich, woher es kam. Es klang, als sei es über ihnen. Oder um sie herum.
Sie sah Griffin an, wollte ihn fragen, was das war. Doch Griffin hielt den Finger an die Lippen.
Da war es wieder. Lauter diesmal. Lauter als rollender Kies. Eher wie fallende Knochen. Oder stürzende Steine.
Vierzig
12:49 UHR
Valentine hatte keine Eile. William hielt im Auto Wache. Sie hatte Pause und vertrat sich die Beine, um das Gefühlsdurcheinander in ihrem Inneren zu beruhigen.
In einem kleinen Eckladen kaufte sie zwei Äpfel und zwei Bananen, einen Liter Wasser. Und Zigaretten – ihren einzigen Luxus.
Im Weitergehen lauschte sie den Gesprächsfetzen und Geräuschen. Sie versuchte, ihre Umgebung auf sich einwirken zu lassen, um wenigstens einige Augenblicke zu vergessen, wie nervös und besorgt sie war. Wie groß ihre Angst war, zu versagen. Wie sehr sie François vermisste. Um zu glauben, dass sie der Herkulesaufgabe gewachsen war, diese Mission allein zu erfüllen. Eine sehr persönliche Mission.
In den spiegelglatten Schaufenstern überprüfte Valentine, ob ihr jemand folgte. Es war unwahrscheinlich, aber sie blieb wachsam.
Hier und da blickten ihr Passanten geistesabwesend nach. Manchmal auch interessiert. Doch sie sahen Valentine nicht wirklich. Es war nur ihr Outfit, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zog und sie zugleich von allem ablenkte, an dem man sie hätte wiedererkennen können.
Der Look, den sie sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte, wargerade nuttig genug, dass jeder, der zweimal hinsah, nur auf ihr Äußeres achtete. Schulterlanges schwarzes Haar mit Pony. Eine Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht bedeckte. Nachts trug sie stattdessen eine getönte Brille in derselben Größe, obwohl sie keine brauchte. Hautenge Jeans. Kniehohe Lederstiefel. Weißes oder schwarzes T-Shirt ohne BH darunter, so dass ihre Brustwarzen zu erahnen waren. Und, je nach Wetter, eine ihrer beiden alten Lederjacken: eine beigefarbene, die sie vor Jahren aus François’ Fundus übernommen hatte, oder eine schwarze Bomberjacke aus dem Secondhandladen, beide mit dutzenden Taschen. So hatte sie immer die Hände frei. Um die Hüfte trug sie den Gürtel, in dem ihr Messer steckte. Sie spürte immer, dass es da war. Und im rechten Stiefel hatte sie eine kleine Automatikwaffe versteckt.
Valentine tippte den Code ein und öffnete das Tor. William saß nach wie vor in dem blauen Smart.
»War was los?«, fragte sie.
»Musik. Küchengeklapper. Schweigen im Walde.«
Am Morgen waren Valentine und William dem kleinen Citroën bis zu dem Café gefolgt. Während Jac und Griffin frühstückten, hatte Valentine einen GPS-Sender unter dem Wagen befestigt. Ein Routinejob: Sie hatte in der Bäckerei Croissants gekauft und war die Straße hinuntergeschlendert. Direkt neben dem Auto hatte sie vorgetäuscht zu stolpern und hatte den Beutel fallen lassen. Dann hatte sie sich danach gebückt, rasch den Arm ausgestreckt und – voilà.
Aber das verdammte Ding hatte sie nur zu einem Parkplatz geführt, der zu einem Einkaufszentrum mit zahllosen Läden gehörte. Zu viele, um herauszufinden, was die beiden wo eingekauft hatten. Und zu viele, um überall Leute zu postieren, ein Ablenkungsmanöver in die Wege
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