Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
gestolpert, doch jetzt hatten sie es geschafft.
Als Jac sich von Robbie löste, bemerkte sie im Schein der Lampe an ihrem Helm blutige Kratzer auf seiner Wange. Sein Hemd war schmutzig und zerrissen. »Bist du verletzt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, warum?«
»Du hast Schrammen im Gesicht.«
»Von den Wänden wahrscheinlich. Ich hatte es am Anfang so eilig.«
»Geht es dir gut?« Jac konnte den Blick nicht von ihm lassen. Sie hätte am liebsten seinen Puls gefühlt, um sich zu vergewissern. Sie hatte solche Angst um ihn gehabt.
»Ja, mir geht es gut.« Er legte einen Arm um sie. »Es ist alles in Ordnung, Jac.«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen.
»Du kannst jetzt aufhören, dir Sorgen zu machen.« Er streichelte ihr den Rücken. »Ich wollte dir keine Angst machen, aber ich hatte einfach keine andere Möglichkeit, dir eine Nachricht zu hinterlassen.«
Jac lächelte. Er hatte schon immer genau gewusst, was in ihr vorging.
»Kanntest du den Mann in der Werkstatt? Er ist tot, Robbie, weißt du das überhaupt?«
»Ich wollte nicht, dass er stirbt. Er hatte eine Waffe und wollte mich erschießen, wenn ich ihm die Tonscherben nicht gebe. Ich wollte ihn nur davon abhalten.« Robbies Stimme zitterte.
Griffin holte eine Flasche Wasser aus seinem Rucksack und gab sie ihm.
»Hier, trink erst mal. Dann können wir immer noch in Ruhe reden.«
Dankbar nahm Robbie die Flasche entgegen und trank sie in tiefen Zügen halb leer.
»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte Jac.
»Kommt nach nebenan, da gibt es einen Tisch und Stühle. Dann kann ich alles erklären, und ihr könnt mir erzählen, was oben los ist. Es ist ziemlich aufreibend, auf der Flucht zu sein.«
»Tisch und Stühle?«, fragte Griffin.
»Kommt, ich zeige es euch. Es gibt hier auch Betten. Und Kochstellen. Alles, was man braucht, wenn man nur weiß, wo man suchen muss.«
Im Nebenraum stand eine große aufgebockte Steinplatte, von improvisierten Bänken umgeben, die jemand aus Grabsteinen aufgeschichtet hatte. Jac wollte sich erst nicht setzen. Das waren geweihte Steine. Mahnmale. Doch als Griffin und Robbie es ihr vormachten, hockte sie sich so dicht wie möglich neben ihren Bruder. Während sie redeten, tastete sie immer wieder nach ihm. Befühlte den Riss in seinem Ärmel, streichelte seinen Arm.
»Bist du seit Montagabend hier unten?«, fragte Griffin.
»Mehr oder weniger. Erst war ich hier und bin dann mit dem Zug nach Nantes gefahren.«
»Wir dachten erst, jemand … Wir dachten, du wärst ertrunken«, sagte Jac.
Robbie legte ihr die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich wollte die Polizei auf eine falsche Fährte bringen.«
»Zu einem Ort, der gleichzeitig eine Nachricht an mich enthielt?«
Robbie nickte. »Glauben sie, dass ich tot bin?«
»Sie sind sich nicht sicher. Marcher, der für den Fall zuständig ist, scheint eher nicht davon überzeugt zu sein. Also, wie hast du hierhergefunden? Hat Großvater dich damals hergeführt?«
Robbie nickte, zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Tasche und breitete es behutsam auf dem Tisch aus. Er ging immer so sorgsam mit den Dingen um.
Die Karte war unhandliche sechzig mal sechzig Zentimeter groß, zerknittert, abgewetzt und fleckig. »Wir haben mit unseren Exkursionen angefangen, nachdem du nach Amerika gegangen bist. Großvater hat mir immer die Karte in die Hand gedrückt und sich führen lassen, damit ich lernte, mich zurechtzufinden. Er hat gesagt, jeder bräuchte mal einen sicheren Rückzugsort. Manchmal waren wir stundenlang hier unten. Er hatte die Tunnel seit Kriegsende nicht mehr betreten und erzählte mir, während er alles wiederentdeckte, lauter Geschichten von der Résistance.«
»Dann ist er den Schacht runtergestiegen? Er war über siebzig!«, staunte Jac.
»Ja, er war unglaublich agil.«
»Ein gemeinsames Abenteuer«, sagte Griffin. Jac erkannte die Wehmut in seiner Stimme wieder. Griffin war über seine eigene Familiengeschichte verbittert. Seine Großeltern waren früh gestorben, und seinen Vater hatte er ja kaum gekannt.
Robbie nickte. »Ich hätte nie gedacht, wie wichtig es einmal für mich werden könnte, mich hier auszukennen. Damals, alsTeenager, habe ich mich mit einigen Kataphilen angefreundet, mit Musikern, die hier unten ab und zu Konzerte gegeben haben. Es ist eine ganze Welt für sich, in der es einfach alles gibt. Kunst und Geschichte, das Grausige wie das
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