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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melisse J. Rose
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hielten ihre Waffen hoch und versuchten, der allgemeinen Hysterie Herr zu werden. Die Menschen von dem Schutzring um den Dalai Lama wegzulenken.
    Xie sah, wie Ru Shan sich Lan in den Weg stellte, sie bei den Haaren packte und mit einer routiniert ausgeführten Kampfsporttechnik zu Fall brachte.
    Während die Dhob-Dhob-Garde Xie und den Dalai Lama zum Ausgang führte, drehte sich Xie noch einmal um. Die Kunststudenten, seine Reisegefährten, blickten ihm teils überrascht, teils entsetzt nach. Nur Professor Wu beobachtete die Szene ungerührt. Sein Gesicht verriet keine Regung, bis auf eine Träne, die ihm über die runzlige Wange glitt.
    Draußen wurde Xie mit dem Dalai Lama zusammen in eine wartende Limousine gesetzt. Durch die Heckscheibe entdeckte er die dunkelhaarige Frau mit den leuchtend grünen Augen, die ihn angesprochen hatte. Auf ihrer weißen Bluse war ein roter Fleck zu sehen. Weitere rote Punkte, in derselben Farbe, wie er sie für seine Siegel benutzte, tüpfelten ihren Schal. Ihr Gesicht war so weiß wie der Stoff darunter. Wie in Trance folgte sie zwei Sanitätern mit einer Krankentrage. Sie weinte nicht, doch ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
    Xie wäre am liebsten aus dem Auto ausgestiegen und hätte mit ihr gesprochen. Hätte versucht, ihr zu helfen und ihr Trost zu spenden. Dann fielen ihm der kleine Beutel und ihre flehentliche Bitte wieder ein.
    Bitte geben Sie es Seiner Heiligkeit. Bitte!
    Xie fühlte sich merkwürdig. Er spürte keinen Schmerz. Keine Angst. Es war, als könnte er plötzlich weiter und klarer sehen, als er es als Erwachsener je gekonnt hatte. Nur damals, als Kind, als er sich manchmal an Dinge erinnerte, die vor seinem Leben als Xie geschehen waren. Ereignisse aus seinem Leben als neunzigjähriger Mönch zu Füßen eines Wasserfalls in den Bergen. Und aus dem Leben davor. Erinnerungen an eine ganze Traumlandschaft voller Wesen, seine früheren Verkörperungen.
    Die Reinkarnation war ein Grundpfeiler all dessen, was man Xie gelehrt hatte. Doch nun trat das Erleben an die Stelle der Theorie. Das Wissen ersetzte die Vorstellungskraft.
    Als das Auto anfuhr, nahm der Dalai Lama Xies Hand underzählte ihm, wie froh er war, seinen spirituellen Ziehsohn wieder bei sich zu haben.
    »Es hat so lange gedauert. Du hast so viel gelitten. Doch du hast deine Sache gut gemacht, und ich bin sehr stolz auf dich.«
    Xie war zu gerührt, um antworten zu können.
    »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du sechs Jahre alt.« Seine Heiligkeit lächelte. »Und was für ein ungestümer kleiner Junge. Mit der Seele eines Mannes, der sehr viel weiser ist als ich.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Ich glaube, doch«, sagte der Dalai Lama. »Hast du mir etwas mitgebracht?«
    Xie nickte und holte den Beutel aus seiner Tasche. »Da war eine Frau im Museum. Sie wollte, dass ich Ihnen das gebe.«
    Der Dalai Lama betrachtete das Geschenk. »Ich freue mich sehr, dass beide Unternehmungen gelungen sind.«
    »Was ist das?«
    »Ich glaube, du weißt es schon. Ich kann es an deinen Augen erkennen.«
    »Etwas, das einem hilft, sich zu erinnern?«
    »So hat man es mir gesagt. Und du erinnerst dich, nicht wahr?«
    Xie nickte. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren musste er nicht mehr verbergen, was er fühlte und was er sah. »Sie auch?«
    »Nein«, antwortete der Dalai Lama. »Aber das macht nichts. Einer von uns erinnert sich. Das ist genug.«

Siebenundfünfzig
     
     
    SAMSTAG, 19:00 UHR
     
    So viele Schläuche und Verbände hatte Jac nicht erwartet. Sie suchte am Türrahmen Halt. Verbot ihren Knien, nachzugeben. Zwang sich, hinzusehen.
    Hinter sich hörte sie ihren Bruder nach Luft schnappen. »O nein!«
    Das Erste, was sie ein wenig beruhigte, war, dass sich Griffins Brust unter dem weißen Betttuch leise hob und senkte. Das Zweite war Robbies Hand in ihrer. Gemeinsam betraten sie das Krankenhauszimmer.
    Sie nahmen sich jeder einen Stuhl und setzten sich zu beiden Seiten neben das Bett.
    Griffin hatte die Kugel abgefangen, die Anis Komplize auf Jac abgefeuerte hatte. Sie hatte ihn in den Oberarmmuskel getroffen. Griffin hatte Blut verloren, doch die Ärzte hatten das Geschoss komplikationslos herausoperiert. Die Wunde war nicht lebensgefährlich.
    Anders als Griffins Sturz.
    Er war von der Wucht des Geschosses rückwärts geschleudert worden und mit dem Kopf gegen eine Bronzeskulptur geprallt. Die letzten sechs Stunden waren ein einziger Alptraum gewesen: bruchstückhafte Informationen, Arztgespräche,

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