Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
hatte den Auftrag, die Vorräte regelmäßig aufzufüllen, doch meistens hielt sie sich nicht daran. Sie hasste ihre häuslichen Pflichten, und François konnte es ihr nicht verdenken. Seit fast zehn Jahren arbeitete sie für die Triaden und wartete auf eine Beförderung. Auf mehr Verantwortung und mehr Außeneinsätze. Doch sie war eine Frau, und die Bruderschaft war traditionell misogyn. Er hatte sie vorgewarnt, als sie beschlossen hatte, beizutreten, doch Valentine war stur und fest überzeugt, dass sie alles ändern konnte. Dass sie die große Ausnahme war.
»Schau, wie weit ich schon gekommen bin«, sagte sie manchmal lachend. »Das hättest du nie gedacht, oder?«
Anfangs nicht, nein. Jedenfalls nicht in jener beißend kalten Februarnacht vor zwölf Jahren.
François hatte um zwei Uhr morgens im Le Jazz Hot im Quartier Chinois sein letztes Set gespielt. Die Straßen waren menschenleer, als er den Club verließ. Das dachte er jedenfalls, bis er vor dem Eingang über eine Gestalt zu seinen Füßen stolperte.
Es war ein mageres chinesisches Mädchen mit strähnigem langem Haar. Trotz der Eiseskälte trug sie keinen Mantel, nur ein fleckiges rot-orangefarbenes Cocktailkleid und billige schwarze Lackstiefel mit hohen Absätzen. Die Einstichstellen in ihren nackten Armen erzählten den Rest ihrer traurigen Geschichte. Er beugte sich herab, um ihr ins Gesicht zu sehen. Blaue Lippen. Glanzlose, blasse Haut. Zu blass.
Als François das Mädchen schüttelte, reagierte sie nicht. Sie hatte nichts bei sich: keine Handtasche, keine Jacke. An ihrem Kleid waren keine Taschen, und er fand keine Ausweispapiere. Was nun? Es war mitten in der Nacht und eiskalt. Er war müde. Doch sie war allein. Hilflos. Wenn er sie so liegenließ, konnte das ihr Ende sein.
François hob sie hoch und trug sie zu seinem Auto. Sie war leicht wie ein Kind, und ihre Haut war viel zu kalt.
In der Notaufnahme des Krankenhauses legte eine Krankenschwester das Mädchen auf eine Trage, fragte ihn, ob er wüsste, was ihr fehlte, was er verneinte, und brachte sie weg.
Kurz darauf rief eine andere Schwester ihn zu sich und begann ihn mit Fragen zu bombardieren.
Wie sah ihre medizinische Vorgeschichte aus? Sie schien sich eine Überdosis injiziert zu haben – wusste er wirklich nicht, was sie genommen hatte? Wie hieß die junge Frau? Wie hieß er? In welcher Beziehung standen sie zueinander?
François vermutete, dass die nackte Wahrheit niemandem weiterhelfen würde. Die Polizei würde ihm niemals glauben,dass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, sie dort liegenzulassen. Man würde ihn verdächtigen, ihr Dealer zu sein. Oder ihr Zuhälter.
»Ich bin ihr Onkel«, sagte er. »Mein Bruder war schon total panisch. Sie leben in Cherbourg. Vor ein paar Tagen ist sie von zu Hause weggelaufen, und wahrscheinlich wollte sie zu mir in den Club, damit ich ihr helfe … und hat es dann nur bis zur Tür geschafft.«
»Wie heißt sie?«, fragte die Schwester noch einmal.
François hatte keine Ahnung, wie sie hieß, und gab ihr den ersten Namen, der ihm einfiel. Er ließ sich von dem letzten Song inspirieren, den er an dem Abend gespielt hatte –
My Funny Valentine
.
»Nachname?«, fragte die Schwester.
Er nannte ihr seinen eigenen.
Die nächsten acht Stunden verbrachte er halb dösend, halb wach im Wartezimmer, während die Ärzte Valentine Lee das Leben retteten.
Es gab da draußen genug Prostituierte, und er hatte nie das Bedürfnis gehabt, den Schutzheiligen zu spielen und einer von ihnen das Leben zu retten. Warum tat er es jetzt? Warum interessierte es ihn überhaupt, was mit ihr geschah?
Am folgenden Nachmittag erlaubten sie ihm, das Mädchen zu besuchen. Ihr Haar war tropfnass und ihr bleiches Gesicht von einem Schweißfilm überzogen. Ihr ganzer Körper wand sich unter den Qualen des kalten Entzugs. Sie war so mager, dass das blassblaue Krankenhaushemd ihr um den Leib schlotterte. Ein verlorenes, einsames Kind. Sie wirkte so hoffnungslos, dass ihm die Tränen kamen.
Obwohl Valentine François ignorierte, ermunterte die Schwester ihn, zu bleiben. »Es tut ihr gut, Gesellschaft zu haben und zu wissen, dass sich jemand um sie sorgt«, sagte sie.
Er war ein Fremder. Es konnte ihr überhaupt nicht helfen,wenn er blieb. Dennoch wich er dem Mädchen nicht von der Seite, das zitterte und stöhnte, sich in Krämpfen wand und sich erbrach. Den ganzen nächsten Tag über saß er an ihrem Bett, bis die schlimmsten Entzugserscheinungen
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