Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
Vom Netzwerk:
Drink.
    Sie tritt auf den Weg hinaus. Es ist nicht Hughie. Es ist Dougie Saul, der Gemeindevorsteher. Und Lily Rickett, die sie noch mal ins Grab bringen wird und die jetzt um sich tritt und spuckt, während er sie am Schlafittchen mit sich zerrt. Felicity Blakemore spürt, wie Groll in ihr aufsteigt. Wann wird sie die je loswerden? Wie kommt es, dass dieses Mädchen ausgerechnet immer dann, wenn sie am wenigsten in der Lage ist, mit ihm fertig zu werden, irgendetwas anstellt? Dougie ist ganz rot im Gesicht vor Anstrengung, sie unter Kontrolle zu halten und ihren hässlichen Kartonkoffer in der anderen Hand zu tragen. Pearl O’Leary und Geoffrey Clark sind bereits von ihren Eltern abgeholt worden. Vera Muntz wird in einer Woche nach Kanada abreisen, und Ted Betts – der nette, gutwillige Ted Betts – ist ins Dorf gezogen und wird beim Lebensmittelhändler und seiner Frau wohnen und sich seinen Unterhalt selbst verdienen, indem er den Lieferburschen ersetzt, der in den Krieg gezogen ist, kaum dass er achtzehn wurde. Die Einzige, die noch übrig ist, ist Lily Rickett. Die grässliche, schmutzige Lily Rickett. Die möchte ihr natürlich keiner abnehmen.
    Mrs Blakemore platziert ihre Füße in der dritten Position und legt die Handflächen zusammen, wobei die Zeigefinger zu den Steinplatten hinab gerichtet sind.
    Ich werde ein Musterbeispiel der Selbstbeherrschung sein, denkt sie. Ich werde mir nichts anmerken lassen. Schließlich möchte ich nicht, dass das ganze Dorf über meine Lage Bescheid weiß.
    Ich möchte am liebsten sterben. Ich wünschte, ich wäre tot. Wo bleibt Hughie bloß?
    »Hab sie wieder auf der Launceston Road aufgegabelt«, japst Dougie.
    »Lass mich los!«, zischt Lily. Ihre Haare sind inzwischen gewachsen, doch obwohl man sie in den Monaten, seit sie ihr wegen der Nissen abgeschnitten wurden, nicht mehr angerührt hat, sehen sie schlimmer aus als damals – sie stehen ihr wirr und wild in Büscheln vom Kopf ab. Sie hätte sich nicht zur Wehr setzen sollen, denkt sie. Immer setzt sie sich zur Wehr. Das ist das teuflischste Kind auf Erden. Wenn sie doch bloß stillgehalten hätte und uns die Sache hätte machen lassen. Es ist ja nicht so, als hätte sie diese Situation nicht selbst heraufbeschworen. Ihr Gesicht ist schon wieder schmutzig, Streifen von Tränen der Wut ziehen sich über ihre Wangen. Ich habe sie jetzt beinahe ein halbes Jahr hier und kann sie immer noch nicht dazu bringen, dass sie sich wäscht. »Lass los!«, brüllt sie.
    Dougie Saul tut, was sie sagt, lässt sie so plötzlich los, dass sie überrascht auf den Boden fällt und sich die Knie aufschürft. Blut und Tränen und Schmutz – das ist schon an einem gewöhnlichen Tag genug, aber ausgerechnet heute … Heute kann ich es nicht ertragen. Heute möchte ich mich in mein Zimmer zurückziehen, mich unter der Decke verkriechen und schreien. Manchmal sieht man Fotos von Trauergesellschaften in anderen Teilen der Welt, von Eingeborenenfrauen, die keine Würde kennen und sich mit Steinen den Schädel malträtieren, sodass sich Staub und Blut mit ihren Tränen mischen. Und heute begreife ich, was sie dazu veranlasst. Heute möchte ich mir mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzen und Gott und das Leben und Patrick anschreien. Ich möchte, dass er sieht, was er angerichtet hat. Er kann nicht einfach fortgehen und sich nicht der Wahrheit stellen, was er angerichtet hat.
    »Vielen Dank, Dougie«, sagt sie. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
    »Scheint, sie will wirklich dahin, wo sie hinzukommen versucht«, stellt Dougie fest.
    Geh. Geh einfach. Ich bin heute nicht in der Lage, Smalltalk zu machen.
    »Portsmouth«, sagt Lily. »Ich möchte nach Hause, nach Portsmouth, verdammt.«
    »Deine Ausdrucksweise, junge Dame«, sagt Dougie.
    »Ach, verpiss dich doch«, schnauzt sie.
    Dougie verzieht sein derbes Gesicht.
    »Vielen Dank, Dougie«, wiederholt Felicity Blakemore. Sollte ich ihm ein Trinkgeld geben? Wartet er auf ein Trinkgeld? Nein. Gemeindevorstehern gibt man bestimmt kein Trinkgeld. Wäre er der Postbote oder irgendein Handwerker, dann vielleicht, aber … außerdem fällt es mir nicht im Traum ein, Trinkgelder dafür zu geben, dass man diese … diese Kreatur … in mein Haus zurückbringt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
    Sie wendet sich dem Kind zu. Nimmt all ihre Selbstbeherrschung zusammen. Wirft ihr das mütterliche, gutmütige Lächeln zu, das das Dorf von ihr erwartet. »Komm mit rein, Lily. Ich denke, du wirst etwas zu

Weitere Kostenlose Bücher