Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
Vom Netzwerk:
dass sie mich akzeptiert.
    »Nein«, schnauzt Tessa. »Ich habe nicht dich gefragt!«
    »Genau«, sagt Lily. »Du kannst mich also doch hören.«
    »Verschwinde!«, fordert Tessa. »Mummy sagt, dass ich mich nicht mit dir abgeben soll.«
    »Warum?«, fragt Lily.
    »Du hast einen schlechten Einfluss«, antwortet Tessa. »Mummy sagt, man kann sich bei dir nicht darauf verlassen, dass du dich auch benimmst.«
    »Tessa!«, schreit Lily. Sie spürt einen starken Schmerz irgendwo in der Nähe ihres Herzens. Sie hat sich so darauf gefreut, dass Tessa wiederkommt. Noch ein anderes Kind im Haus zu haben, eines in ihrem Alter, nicht nur diese böse Mutter, die schweigend, aber mit gespitzten Lippen, ständig hinter ihr her ist. Im Sommer hatte Tessa immer mit ihr geredet, wenn keiner in der Nähe war. Sie waren beinahe Freundinnen gewesen. Sie hatten an einem Nachmittag sogar zusammen im Bach einen Damm gebaut. Sie hatte gehofft, dass sie Freundinnen sein würden.
    Ich bin allein. Ich bin ganz allein. Warum tun sie mir das bloß an?
    »Lass mich in Ruhe!«, sagt Tessa.
    »Warum? Du musst doch nicht tun, was sie dir sagen!«
    Plötzlich schaut Tessa zu ihr auf, wie sie neben der Schneiderpuppe steht und die Hände ringt. »Aber das mache ich«, sagt sie. »Es tut mir leid, Lily, aber ich kann nicht. Mummy sagt, dass du eine Lügnerin und Unruhestifterin bist, und sie sagt, dass sie mich mit den Hausschuhen schlägt, wenn sie mich dabei erwischt, dass ich mit dir rede. Ich kann nicht.«
    Lily steigen Tränen in die Augen. Das ist so ungerecht. So gemein.
    »Deine Mutter ist eine dumme Kuh«, sagt sie.
    Tessa rappelt sich auf die Füße. »Nein!«, schreit sie. »Wag es bloß nicht, meine Mutter zu beschimpfen! Sie hat dich aufgenommen, als niemand dich nehmen wollte, und du solltest wirklich dankbar sein! Verschwinde, Lily. Ich will nicht mit dir reden!«
    Lily wird wütend und schubst sie. Tessa stolpert, verfängt sich in ihrem Kleidersaum und wäre beinahe in die nächste Truhe gekippt.
    »Da hast du’s!« Sie stürzt sich auf den Hausgast, stößt Lily so plötzlich und kräftig zurück, dass diese darauf nicht vorbereitet ist, gegen die Schneiderpuppe knallt und daneben auf dem Boden landet.
    »Lass das!«, schreit Tessa. »Hau einfach ab! Ich will mit dir nichts zu tun haben! Geh einfach weg!«
    Sie schnappt sich den knielangen Rock und die Baumwollbluse, die sie achtlos auf den Boden geworfen hatte, und stolziert in Richtung Treppe, das Kleid bis zu den Knien hochgezogen.
    »Du siehst wie eine Idiotin aus!«, ruft Lily der hochmütigen Gestalt hinterher. Dumme Schnepfe. Als ob sie mit einer eingebildeten Schleimerin befreundet sein wollte! Sie reibt sich den Brustkorb, weil sie mit den Rippen gegen das scharf geschwungene Bein einer alten Chaiselongue geprallt ist, und kämpft gegen die aufsteigenden Tränen an. »Verpiss dich doch! Als ob mich das kümmern würde!«
    Tessa antwortet nicht. Geht den Flur entlang und die Treppe hinunter.
    »Ist mir doch egal«, sagt Lily laut in den leeren Raum hinein, »das ist mir scheißegal.«
    Sie bleibt eine Weile liegen, schaut zu den Dachbalken hinauf. Ist mir egal. Ich werde nicht für immer hierbleiben. Eines Tages schaffe ich es, von hier fortzukommen.
    Als sie sich aufsetzt, fällt ihr Blick auf die Kleider in den Truhen. Ich könnte ja die Chance nutzen, dass sie offen sind. Die Farben sind eine wahre Pracht, und wie sich die Stoffe erst anfühlen! Manche sind von Motten zerfressen und durch die Jahrzehnte verschmutzt, aber Lily hat noch nie so viele Reichtümer auf einem Haufen gesehen. Sie kriecht über den Boden und lässt sich zwischen den Schätzen nieder. Sie betastet die Stoffe, streicht über eine weiche, abgelegte Federboa, hält einen Cleopatra-Perlenkopfschmuck aus den 1920er Jahren hoch, der zu dem Perlenkleid passt, und bewegt ihn hin und her, sodass er in dem schwachen Licht wie ein Kronleuchter funkelt. Das erfüllt sie mit einem seltsamen, unbestimmbaren Verlangen.
    Sie zieht ihr verblasstes Gingham-Kleid aus und lässt es auf den Boden fallen, wählt eine lange, schräg geschnittene Robe in champagnerfarbenem glattem Satin aus und zieht sie sich über den Kopf. Es ist nicht nötig, die Zeit mit Häkchen und Reißverschlüssen zu verplempern: Lily ist so schmal, dass das Kleid, obwohl die ehemalige Besitzerin in den Armen ihres Partners, während sie bei einem längst vergessenen Ball über das Tanzparkett schwebten, gertenschlank gewesen sein muss, an ihrem

Weitere Kostenlose Bücher