Das Haus der verlorenen Kinder
Zuschauerinnen aus Porzellan.
Schön, denkt Lily. Man stelle sich mal vor, so viel Geld zu haben, dass man diese Sachen einfach in Truhen verstaut. Dass man denkt, Kinder können damit spielen, anstatt dass man sie selbst anzieht. Was hätte meine Mum mit diesen Sachen alles anfangen können! Sie hätte fantastisch ausgesehen. Zu gut für die Docks von Portsmouth. Hätte sie Kleider wie diese gehabt, dann hätte sie in die schicken Hotels gehen und sich unter die feinen Leute mischen können. Müsste nicht nehmen, was sie an ölverschmierten Kerlen kriegt, die für eine Nacht Landurlaub haben.
Sie wünscht sich, Tessa würde aufblicken, sie willkommen heißen und sie die bestickten Capes, das pinkfarbene Bettjäckchen und das elegante silberne Kleid aus den 20er Jahren, an dessen Saum Tausende funkelnder Perlen hängen, anprobieren lassen. Sie weiß, dass das nicht passieren wird.
Sie tritt vor und sagt: »Was machst du denn da?«
Tessa fährt zusammen und dreht sich in ihre Richtung. Wirkt einen Augenblick schuldbewusst, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Mustert sie von Kopf bis Fuß. Und dann geschieht genau das, was vorherzusehen war. Tessa reckt das Kinn, verdreht die Augen und wendet ihr den Rücken zu.
»Was sind das denn für Sachen?«
Tessa antwortet nicht. Lily kommt näher und bleibt direkt neben ihr stehen. »Ich hab gefragt, was das für Sachen sind?«
Tessas Blick schnellt zu ihr hinauf, dann wieder zur Seite. Sie greift nach der Puppe, die ihr am nächsten sitzt, und nimmt sie auf den Schoß. Zieht aus der Truhe zu ihrer Linken ein Babytaufkleidchen: cremefarbene Spitzenrüschen mit einem passenden Häubchen, das mit einem Band daran befestigt ist. Fängt an, den Kopf der Puppe durch den Halsausschnitt zu schieben. Die Puppe ist viel zu klein für ein Kleid, das für ein drei Monate altes Baby gedacht ist. Schnell verschwindet sie in einem Meer von Chantilly-Spitze und Bändern.
»Du spielst doch nicht etwa immer noch mit Puppen?«, fragt Lily. »In deinem Alter?«
Lily ist sich jetzt mit ihren neun Jahren ihrer eigenen Reife unangenehm bewusst. Sie kichert gemein. Wenn Tessa weiter so unverschämt ist, dann wird sie bestimmt nicht versuchen, nett zu ihr zu sein.
»Ich hab nicht mehr mit einer Puppe gespielt, seit ich fünf war«, informiert sie den ihr zugewandten steifen Rücken.
»Da«, sagt Tessa verunsichert. »Du siehst wunderschön aus.«
Lily versucht es auf andere Weise. Sie möchte so gerne mitspielen dürfen, ihre Hände zwischen die Stoffe schieben, sich diese warmen, edelsteinbunten Farben ans Gesicht halten.
»Du siehst wie ein Weihnachtsbaum aus«, sagt sie. Nicht unfreundlich. Die Weihnachtsbäume in ihrem Buch zählen zu den allerschönsten Erfindungen überhaupt.
Wieder keine Antwort. Als ob ich ein Geist wäre, denkt Lily.
Sie beugt sich vor, um sich den Inhalt der ihr am nächsten stehenden Truhe anzuschauen, jener, die die Kleider enthält. Streckt die Hand nach einem Stück leuchtend rotem Brokat aus, der ihre Aufmerksamkeit erregt hat, und spürt, dass eine Hand auf ihren Handrücken schlägt. Zuckt schockiert zusammen und schreit: »Au! Wieso machst du das?«
»Ich hätte schwören können«, sagt Tessa zu den Puppen, »dass ich einen Hund habe bellen hören.«
Die Puppen starren sie ungerührt an.
»Oder vielleicht sind das auch Ratten«, fährt Tessa fort. »In jedem Fall stinkt hier irgendwas.«
»Hallo?«, sagt Lily. »Ich stehe direkt vor dir!«
»Manche Menschen«, erzählt Tessa ihren Puppen spitz, »wissen einfach nicht, wann sie unerwünscht sind. Ist euch das schon einmal aufgefallen?«
Ach, ich verstehe, denkt Lily. Ich bin für sie wieder einmal Luft. Sehr schlau. Sehr erwachsen. Das muss sie wohl in ihrer supertollen Schule gelernt haben. So etwas bringen sie da den jungen Ladys bei, weil es jungen Damen nicht gestattet ist, jemandem einfach eine Ohrfeige zu geben, und das war es dann. Dumme Kuh. Trotzdem, was kann man von ihr denn erwarten? Sie ist schließlich die Tochter ihrer Mutter. Ich dachte, sie wäre besser als der Rest ihrer Familie, aber das ist sie natürlich nicht. Nur weniger direkt, geht bloß feiger vor. »Ich sage euch was«, fährt Tessa fort, »es wird hier drin allmählich richtig stickig. Ich weiß, was ihr von diesem Gestank haltet. Sollen wir in mein Zimmer gehen? Da ist es angenehmer. Dort sind wir ungestört.«
»Gern«, antwortet Lily. Ich mache diesen Quatsch nicht mit und werde schon dafür sorgen,
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