Das Haus der verlorenen Kinder
den knochigen Hüften hängend, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sie beobachtend. Jetzt verstehe ich, sagt sie im Stillen zu ihr. Jetzt weiß ich, wie es war.
»Du Ärmste«, flüstert Bridget und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. »Mein armer Schatz. Ich hab dich lieb, das weißt du.«
Yasmin blickt auf. Ihr Gesicht strahlt. Wie seltsam, denkt Bridget. Noch vor einer Sekunde war sie leichenblass, und jetzt …
»Ich hab dich auch lieb, Mum«, sagt Yasmin.
Lily lächelt. Dreht sich in Richtung Teich um. Wirft einen Blick über die Schulter zurück. Sie beide sind jetzt wieder auf den Beinen und humpeln Hand in Hand auf das Haus zu. »Wir kriegen dich schon wieder warm«, sagt Bridget, »und ich werde ein langärmliges Unterhemd für dich suchen, dann können wir zum Feld hinaufgehen. Du bist doch noch nie Schlitten gefahren, oder?«
Yasmin schaut zu ihr auf und schüttelt den Kopf. »Nein.«
»Das wird dir gefallen. Wird dir Spaß machen. Mein Dad ist mit mir immer in den Dulwich Park gegangen, als ich so alt war wie du. In der Spülküche sind ein paar Teetabletts. Die nehmen wir nachher mit. Es wird dir bestimmt gefallen.«
54
»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
Sie hat ihn nicht kommen hören. Er ist auf Zehenspitzen zum Dachboden hinaufgeschlichen, und die Geräusche seiner vorsichtigen Bewegungen sind nicht bis zu ihr durchgedrungen, weil sie geschlafen hat. Sie ist so benommen vor Kälte, Langeweile und Hilflosigkeit, dass sie nach den Nächten im Schlafsaal, in denen sie kein Auge zutut, fast den ganzen Tag über schläft.
Lily hat alle drei Truhen ausgepackt, ihren Inhalt auf dem Dachboden verteilt, damit der Raum gegen die Zugluft abgedichtet ist und die Wärme des elektrischen Heizstrahlers auf den kleinen Bereich rund um die Chaiselongue konzentriert bleibt. Wie sie so in ihrem cremefarbenen Ballkleid aus Chiffon in der Wärme ausgestreckt daliegt, umgeben von ihren Lieblingssachen, sieht sie aus wie die Fee in einer herrenlosen Schmuckschatulle. Sie starrt ihn an, braucht einen Augenblick, bis sie registriert, dass er tatsächlich dasteht. Und dann zieht sie ihr Kleid herunter, versucht, sich zu bedecken.
»Was machst du da?«, fragt er.
»Nichts«, antwortet sie. »Ich habe geschlafen.«
»Du Diebin«, sagt er. »Mummy hat gesagt, dass sie dich einsperren musste, aber ich wette, sie hat nicht gewusst, dass du hier hereinkommst und auch noch Sachen klaust.«
»Ich klaue nicht«, entgegnet Lily.
»Und was hast du da an?«
Er gibt sich prahlerisch. Sie kennt das schon. Das macht er immer, wenn er sich mächtig fühlt.
»Nichts.«
»Das sieht für mich nicht nach nichts aus.«
Er tritt in den warmen Bereich vor. »Wollen wir doch mal sehen.«
»Nein«, antwortet sie. Und zieht das Kleid enger um sich.
»Du Diebin«, sagt er. »Wolltest dich verkleiden, oder was? Dachtest, du ziehst Großmamas Kleid an und verwandelst dich in eine Prinzessin?«
Oh, mein Gott. Bitte halte ihn mir vom Hals. Ich kann das nicht ertragen.
»Ich kann meine eigenen Kleider nicht mehr anziehen. Ich hab sie wochenlang angehabt. Die sind schmutzig.«
»Ich hätte ja gedacht, dass du daran gewöhnt bist«, stellt Hugh fest.
»Deine Mutter«, versucht sie an seine Vernunft zu appellieren, »deine Mutter hat – irgendetwas stimmt mit ihr nicht, Hugh. Du musst das doch auch bemerkt haben. Sie hat mich hier eingesperrt. Das ist nicht richtig.«
Jetzt steht er neben ihr. Er ist beinahe fünfzehn, stämmig gebaut, und sie wird es niemals mit ihm aufnehmen können.
»Ich muss dich irgendwie vom Stehlen abhalten«, erklärt er.
»Bitte, Hugh.«
»Na ja, wir …«, er tritt noch einen Schritt näher und beugt sich über sie, »… wir ziehen dir das zuerst einmal aus.«
Oh, mein Gott.
Und sie rollt sich zu einer Kugel zusammen, spannt die Muskeln an und schützt ihren Kopf mit den Händen. Das kann nicht sein. Das darf nicht passieren. Ich bin neun Jahre alt. Das kannst du mir nicht antun. Bitte, bitte, lass das, bitte …
Er berührt mich mit seinen großen Händen. Er hat sie zwischen meine Arme und meine Knie geschoben, und ich kann ihn nicht davon abhalten, weil er zu stark ist. Er streckt mich aus wie eine Kellerassel, zieht mich auf. Ich trete um mich. Trete ihn. Trete ihm ins Gesicht, damit er von mir ablässt …
»Autsch«, sagt Hugh. »Du kleines …«
Und jetzt ist er direkt auf ihr und nagelt sie fest. Kniet neben ihren Hüften und verdreht ihr die Arme. Lass das. Mein
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