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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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Gott. Hilf mir. Was habe ich getan? Was habe ich bloß getan? Er ist – o mein Gott, er ist abstoßend. Er ist widerlich. Ich muss – ich kann nicht – bitte, hilf mir. Jetzt hat er seine Knie zwischen meine Schenkel gezwängt, und er zieht das Kleid hoch. Das kann er doch nicht tun. Das kann er nicht machen. Er …
    Sie schafft es, eine Hand freizubekommen. Schlägt ihm ins Gesicht. Er schlägt zurück. Packt sie an der Taille, hievt sie hoch und lässt sie auf den Boden fallen. Lily versucht, davonzukriechen, versucht, ihm zu entkommen, spürt, wie seine Hand das Kleid hinten packt und sie wieder zu sich zieht. Menschen wie uns können die alles antun, diese Leute. Ich lass mir das nicht – Gott, gib, dass er von mir ablässt!
    »Komm schon, komm schon«, sagt er eindringlich mit belegter Stimme. »Du dreckige kleine …«
    Ihre Hand, mit der sie in dem Versuch, irgendwo Halt zu finden, unter der Couch herumtastet, trifft auf etwas Hartes. Ergreift es. Sie weiß nicht, was das ist, nur dass es in ihre Hand passt und schwer ist und dass sie es mitnehmen kann, als er sie nach hinten zieht. Und jetzt liegt sie wieder auf dem Rücken, und sein Gesicht – sein Gesicht ist rot, und seine Pupillen sind wie Nadelstiche, und er ist in Gedanken ganz woanders, ganz mit sich selbst beschäftigt, und er überlegt gar nicht, sieht in ihr kein menschliches Wesen, ist nur wild entschlossen …
    Lily schlägt zu. Spürt das Krachen, als ihre Waffe ihn am Kopf trifft. Sieht, als sie sie zurückzieht, dass es sich um einen angeschlagenen und zerkratzten Briefbeschwerer aus Glas handelt. Hört ein seltsames Geräusch aus seinem Mund kommen, eine Art Klagelaut wie der eines Tieres, ein zusammenhangloses Geräusch, ein Murmeln. Seine Hände lösen den Griff und fassen an seinen Kopf. Und er sackt zusammen. Nach vorn, auf sie und nagelt sie am Boden fest.

55
    Ein schöner Tag. Ein herrlicher Tag. Wir sind wieder auf dem richtigen Weg, Yasmin und ich. Wir mögen uns wieder, verstehen einander. Jetzt vertraut sie mir: Sie weiß, dass ich auf ihrer Seite stehe, weiß, dass wir zusammen Spaß haben können. Zusammen lustig sind.
    Bridget steht in der Tür von Yasmins Zimmer und lauscht, wie sie atmet. Mein Kind: mein wunderbares Kind. Tage wie dieser, Tage, an denen sie zusammen sind und sie dazulernt, und Yasmin dazulernt, und an denen sie spüren kann, dass sie einander verstehen, wenn sie erschöpft von der Kälte und dem Herumtoben nach Hause kommen – das sind die Tage, an denen sie weiß, dass alles gut wird, an denen sie weiß, dass es ihnen trotz allem, trotz ihrer prekären Lage, trotz der Vergangenheit, trotz der unsicheren Zukunft irgendwie gut gehen wird. Es wird alles in Ordnung sein, weil sie einander haben und weil das alles ist, was sie brauchen.
    Zehn Uhr, und sie ist schon im Begriff einzuschlafen. Aus dem Badezimmer dringt Dampf, der nach Lavendel duftet. Sie denkt, dass sie Carol später vielleicht anrufen könnte, sobald sie gebadet und sich entspannt hat, um ihr Bescheid zu geben, dass hier alles wieder in Ordnung ist. Es ist acht Tage her, seit sie das letzte Mal miteinander telefonierten, und sie kann ja nicht ewig keinen Empfang haben. Jedenfalls wird sie ihr eine Nachricht aufs Band sprechen und den verzweifelten Anruf von gestern Abend erklären. Die arme Carol. Es ist nicht fair, sie damit zu belasten, wo sie doch gerade dabei ist, ihr eigenes Leben endlich wieder in den Griff zu bekommen.
    Bridget zieht die Tür zu Yasmins Zimmer fast zu, lässt sie aber einen Spalt offen stehen, damit ein wenig Licht in die Dunkelheit fällt, geht durch den Flur und knotet dabei den Gürtel ihres Bademantels auf. In der Wohnung ist es wohlig warm. Sie hat die Heizung voll aufgedreht, weil sie davon ausgeht, dass Tom Gordhavo niemals wird feststellen können, wie hoch sich die Kosten belaufen, die Heizungsrohre im Rest des Hauses davor zu bewahren, dass sie zufrieren.
    Im Gegensatz zu ihrem sonst so hastigen Umkleiden, lässt sie jetzt den Bademantel auf den Boden des Badezimmers fallen und betrachtet sich im Spiegel, während sie sich die Haare hochsteckt. Es ist lange her, dass ich das gemacht habe, denkt sie, seit kurz nach Yasmins Geburt nicht mehr, als der Schock über die Veränderungen an meinem Körper und Kierans Ekel mich dazu veranlasst haben, an jeder spiegelnden Oberfläche vorbeizuhuschen, als würde sie mir meine Seele rauben. Es ist gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Vielleicht habe ich mich daran

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