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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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zwei Stockwerke weiter oben zu vernehmen.
    »Was meinst du damit, es wird nicht mehr lange dauern?«, fragt Kieran.
    »Seid leise! Ihr alle! Geht schlafen!«, bellt die erste Stimme.
    »Und schaltet endlich diese beschissene Alarmanlage aus!«
    »Verpisst euch doch alle!«, schreit Kieran. Steuert auf die Haustür zu.
    Nick, der ihn näher kommen sieht, saust in den Eingang zurück und knallt ihm die Tür vor der Nase zu. Carol geht jetzt, da eine Barriere zwischen ihr und der Straße ist, zu ihrer eigenen Wohnungstür, kommt heraus und läuft zur Treppe. Nicks Anwesenheit ermutigt sie. Er mag ja ein Taugenichts sein, aber jetzt, da er schon einmal hier ist, hat er keine Möglichkeit, sich da einfach herauszuhalten.
    Das Hämmern fängt an. Kieran schlägt gegen die Haustür. Nick lehnt sich dagegen, die Augen weit aufgerissen, Schweiß steht ihm auf der dick eingecremten Stirn. Er sieht verängstigter aus, als ich mich fühle, denkt Carol.
    »Rufen Sie die Polizei«, stottert er. »Um Himmels willen, rufen Sie die Polizei. Er versucht, hereinzukommen!«
    Klasse, denkt sie. Ein paar Mal wären wir sehr dankbar gewesen, wenn Sie das getan hätten. Trotzdem macht sie sich daran, die Treppe hinunterzugehen, während das Hämmern noch etwas lauter und das Geräusch durch Kierans Tritte gegen die Tür verstärkt wird. Kieran wird immer wütender. Sie geht an Nick vorbei und legt den Finger auf die Taste der Gegensprechanlage. Ich hätte mir diese Sicherheitsschlösser besorgen sollen, denkt sie. Hätte mir eine Sicherheitskette anschaffen sollen.
    »Geh, Kieran«, sagt sie wieder. »Sie sind nicht mehr da. Sie sind ausgezogen. Hier hast du nichts mehr zu suchen.«
    Ein erneutes Bombardement erschüttert die Tür. Kierans Stimme heult jetzt, da er jede Kontrolle verloren hat, wie die eines Wolfs durch die Tür. »Lass mich rein! Lass mich rein! Ich will mein Kind sehen! Lass mich rein, du Schlampe!«
    Die Zeitschaltuhr lässt das Treppenhauslicht ausgehen. Selbst in der Dunkelheit sieht sie das Weiß in Nicks Augen. Morgen früh wird er die ganze Sache völlig anders darstellen, denkt sie. Bis er im Büro ankommt, wird er ganz allein mit Kieran fertig geworden sein.
    »Lass mich rein!«, brüllt Kieran. »Verdammt, lass mich rein!«
    Und ein wenig weiter, um die Ecke der Streatham High Road ertönt eine näher kommende Sirene.

17
    Sie steckt wieder in dem alten Traum fest. Dem Albtraum. Nacht für Nacht, immer wieder, wie eine Videosequenz, die immer wieder abläuft: seine Zähne gebleckt, die Faust erhoben, das Knirschen, wenn er zuschlägt, das Rot. Immer wieder. Sein verschlagenes Gesicht, das sich in der Dunkelheit drohend abzeichnet, wie er auf sie zustürzt, einen Satz macht …
    Sie denkt, dass sie vielleicht geschrien hat. Irgendetwas hat sie aufgeweckt. Und dann fällt es ihr ein.
    Er war hier, denkt sie. Er war hier. Ich habe ihn gegen die Tür trommeln hören, brüllen hören, dass er hereingelassen werden will. Aber jetzt ist da nichts außer dem Wind. Und dem Schweiß auf den Laken. Und der Dunkelheit. Samtige, alles einhüllende Dunkelheit. Jene Art von Dunkelheit, wie sie ihrer Vorstellung nach die Blinden sehen. Sie kann in ihrem Schlafzimmer nichts erkennen: Kein Schein einer Straßenlaterne schimmert durch die Vorhänge, keine roten LED-Ziffern eines Weckers schaffen ihre eigene winzige Oase von Normalität. Kein einziger Laut: nur das Heulen des Sturms und das Geräusch ihres eigenen Atems.
    Er ist hier. Er ist hier.
    Sie tastet in die Dunkelheit, um das Licht anzuknipsen, greift ins Leere. Spürt, wie die Panik ihr wieder die Kehle zuschnürt. Sie ist weg. Sie ist weg. Die Welt ist verschwunden, während ich geschlafen habe …
    Und dann erinnert sie sich. Du bist nicht mehr in Streatham. Du bist in Cornwall. Die Lampe steht auf der anderen Seite des Betts.
    Wieder streckt sie die Hand aus, dieses Mal die linke, findet die vertraute Form ihrer Nachttischlampe und drückt auf den Knopf. Atmet durch. Lässt sich auf das Kissen zurückfallen.
    Plötzlich wird das Zimmer, das riesig wie der Hades gewirkt hat, als sie dessen Begrenzung nicht sehen konnte, wieder kleiner, wird gemütlich. Sie mag dieses Zimmer bereits. Die Holztäfelung und das Geräusch des Windes, der draußen durch die Blätter raschelt, vermitteln ihr das Gefühl, in einem Boot zu sein, weit draußen auf dem Meer, in sicherer Distanz von London, von Kieran, von ihrer Angst. Das hier wird unser sicherer Hafen sein. Ich weiß es. Das wird

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