Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
Vom Netzwerk:
unser Zufluchtsort sein.
    Bridget entspannt sich allmählich. Er kann uns nicht finden. Wir sind in Sicherheit, und er kann mich nur in meinen Träumen verfolgen, und jetzt bin ich wach, und wir sind wieder sicher.
    Sie greift nach ihrer Armbanduhr, die auf dem Nachttischchen liegt – der Wecker ist noch immer irgendwo vergraben, wohl ganz unten in einem der Müllsäcke im Wohnzimmer –, und schaut, wie spät es ist. 1 Uhr 30. Schon wieder bin ich mitten in der Nacht wach. Wie lange wird es dauern, bis ich wieder lerne, richtig zu schlafen? Wann werde ich ins Bett gehen, meine Augen zumachen, liegen bleiben und schlafen, ohne mit einem Ohr nach einem Eindringling zu lauschen? Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt. Habe so viele Nächte damit verbracht, auf den Schlag gegen die Tür zu warten, das Trommeln mit den Fäusten, seine bellende Stimme.
    Das braucht Zeit, Bridget. Es wird lange, lange dauern, bis du wieder die ganze Nacht durchschläfst.
    Neben dem Wasserkocher liegt eine Packung Baldriantee, den sie in dem Öko-Laden in Wadebridge auf Anraten eines Mädchens gekauft hat, das aussah, als sei es kaum alt genug, um lesen zu können, geschweige denn Fremde zu beraten. Sie wirft die Decke zurück, steigt aus dem Bett und tapst in die Küche hinüber.
    Heute Nacht bläst der Wind aber richtig stark. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass das warme, schöne Cornwall, das Ziel Hunderttausender Urlauber, die den britischen Traum von einer eigenen, sonnigen Riviera träumen, im Winter so unwirtlich sein kann. Aber das ist es natürlich: Schließlich liegt es eingeklemmt zwischen dem Bristolkanal und dem stürmischen westlichen Ärmelkanal. Am Rande eines für seine Tücken und Todesgefahren berüchtigten Ödlands. Diese felsigen Küsten haben schon immer für reichlich Strandgut von Schiffswracks gesorgt. Nur in einem ungezähmten Teil des Landes konnten die Bewohner dies so lange treiben, nämlich in Seenot geratenen Seeleuten einfach die Kehle zu durchschneiden und ihre angespülte Ladung zu plündern, um die jämmerlichen Erträge ihrer Farmen aufzustocken. Als sie noch ein Kind war – bevor es uncool wurde, zu lesen, bevor der Tod ihrer Eltern sie frühzeitig in eine Welt der Sorgen Erwachsener warf, vor Kieran –, pflegte sie die Bücher von Daphne du Maurier zu verschlingen, sich mit Vergnügen die Geschichten über ferne Länder und wagemutige Abenteuer reinzuziehen. Es ist wirklich komisch, dass sie erst jetzt bemerkt hat, dass sie nun genau an dem Ort wohnt, an dem viele dieser Geschichten spielten. Sie waren auf dem Weg hierher sogar an Hinweisschildern auf ein Jamaica Inn vorbeigekommen.
    Sie füllt den Wasserkocher, schaltet ihn ein und setzt sich an den Küchentisch, um zu warten, bis das Wasser kocht. Während sie so dasitzt, wird ihr klar, dass sie tatsächlich zum ersten Mal, seit sie den Plan, hierher zu kommen, in die Tat umgesetzt hat, Hunger verspürt. Richtigen Hunger. Sie ist nicht einfach nur aus dem Wissen heraus hungrig, dass sie etwas essen muss, um fit zu bleiben, sondern sie empfindet einen so genüsslichen und vorfreudigen Hunger, dass sie sich kaum erinnern kann, wann sie das letzte Mal ein so starkes Gefühl verspürt hat.
    Ein pochiertes Ei auf Toast, genau das möchte sie jetzt essen. Ihr läuft das Wasser im Mund zusammen bei dem Gedanken an zähflüssiges Eigelb, das sich auf einer warmen Schicht Butter und Marmite ausbreitet, auf schwerem Vollkornbrot frisch aus dem Toaster. Unglaublich, wie die einfachsten Genüsse im Kern eine solche Sinnlichkeit haben können. Sie geht zum Kühlschrank, holt ein paar Scheiben Brot aus der Tüte und steckt sie in den Toaster.
    Das Heulen des Windes nimmt zu, er donnert gegen die Fensterscheiben wie ein vorbeisausender Schnellzug. Sie erschaudert unweigerlich, obwohl der Raum warm und sie gut eingemummelt ist. Dann schmunzelt sie. Mensch, das ist nett. Ich kann mich erinnern … ach, Yasmin, das wird schön. Wir werden hier eine glückliche Zeit verbringen. Unser erster richtiger Winter. Wir können all die typisch britischen winterlichen Traditionen pflegen: Brötchen an einem offenen Feuer rösten; eine Schneeballschlacht machen; geschützt von Mützen mit Ohrenklappen durch den Regen rennen, mit vom Wind geröteten Wangen und von der Kälte leuchtenden Augen. Das ist gut. Das ist richtig gut …
    Der Wasserkocher schaltet sich ab. Sie steht wieder auf, bereitet ihren Tee zu und füllt für die Eier einen Topf mit Wasser.
    Es kann

Weitere Kostenlose Bücher