Das Haus der verlorenen Kinder
aufgerafft, ihr, wenn sie in den Laden kam, ein schwaches Nicken zuzuwerfen, als Zeichen, dass sie sie kannten. »Bridget. Bridget Fl… – Sweeny.«
Sie könnte sich ohrfeigen. Ich werde es ein ganzes Stück besser machen müssen, wenn das funktionieren soll.
Die Frau hinter der Kasse streckt die Hand aus und schüttelt die ihre. »Chris Kirkland. Willkommen in Meneglos.«
»Danke.«
Ivy beugt sich hinab, bis ihr Gesicht auf der gleichen Höhe mit Yasmins ist. »Und wer ist das?«
»Yasmin«, antwortet Yasmin und tritt rasch einen Schritt zurück. Sie ist es nicht gewohnt, dass fremde Erwachsene ihr so nahe kommen. Bridget hat noch nie darüber nachgedacht, aber die Leute in London achten sehr darauf, Distanz zu Kindern zu wahren, aus Angst, bestraft zu werden.
»Hallo, Yasmin«, sagt sie. Greift zur Theke hinauf und holt ein riesiges Gefäß mit Lutschern herunter. Schraubt es auf und hält es ihr hin. »Möchtest du einen?«
Yasmin bekommt Stielaugen. Dann sagt sie: »Nein danke.«
Ivy wirkt verdutzt.
»Mummy sagt, dass ich von Fremden keine Süßigkeiten annehmen darf«, erklärt Yasmin.
Chris lacht. »Recht hat sie«, sagt sie. »Und du hast gute Manieren, wie ich sehe.«
»Ist schon in Ordnung«, versichert ihr Bridget. »Das sind jetzt keine Fremden mehr. Du kannst dir also getrost einen nehmen.«
Das Gefäß wird wieder gesenkt, damit sie hineingreifen kann. Yasmin lässt sich mit ihrer Wahl Zeit. Betrachtet nacheinander jeden Lutscher und nimmt sich schließlich einen blauen heraus.
»Danke«, sagt sie unaufgefordert.
Ach, das ist lieb von dir, mein kleiner Schatz. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir für diesen guten ersten Eindruck bin. Das wird sich im Nu im Dorf herumsprechen; ich bin dir so dankbar, dass du dir nicht gerade diesen Augenblick für einen deiner Wutanfälle und dein Geschrei herausgesucht hast.
»Und, gehst du schon zur Schule, meine Liebe?«, fragt Chris. Yasmin, die sich den Lutscher in den Mund gesteckt hat, nickt heftig und anhaltend.
»Sie ist in der zweiten Klasse.«
»Sie schicken sie doch sicher in die Dorfschule, oder etwa nicht?«
»Na ja, ich habe gehofft … was meinen Sie, wie stehen die Chancen?«
»Na, es ist ja nicht gerade Eton. Hier muss man sie wenigstens nicht schon vor ihrer Geburt eingeben.«
»Sie eingeben«, sagt Ivy. »Dieser Ausdruck hat mir schon immer gefallen. Erinnert mich immer an die oberen Schichten, die ihre Kleinen wie Kätzchen in einem Eimer ertränken.«
Bitte gib, dass Yasmin das jetzt nicht gehört hat. Wir haben ohnehin schon genug Probleme mit Kätzchen.
Zu ihrer Erleichterung hat Yasmin einen Stapel Barbie-Zeitschriften entdeckt und das Interesse an den Erwachsenen verloren.
»Kommen Sie einfach am Montag vorbei«, sagt Chris. »Die Ferien fangen am Mittwoch an, Sie haben also Glück. Wenn niemand im Sekretariat ist, gehen Sie einfach rüber und klopfen bei der Direktorin; das ist das Haus neben der Schule. Blaue Tür. Sie können es gar nicht verfehlen. Mrs Varco heißt sie.«
»Wird Yasmin so spät im Schuljahr denn noch aufgenommen?«
»Das sind gesetzliche Bestimmungen«, antwortet Ivy. »Sie wohnen im Einzugsbereich. Die quetschen einfach noch einen Stuhl an einen Tisch, und los geht’s.«
»Die Sache ist die, dass es hier keine Alternative gibt«, stellt Chris fest. »Das ist nicht wie in London. Hier braucht man sich keine Sorgen zu machen, wie man die schlechten Schulen meidet. Hier muss man nehmen, was es gibt, oder auf eine Privatschule gehen. Glück für Sie, dass Meneglos eine gute Schule hat.«
»Na ja, jedenfalls kommen sie nicht heraus und fluchen wie die Fuhrknechte. Nicht wie drüben in Wadebridge.«
Beide schweigen einträchtig beim Gedanken an die negativen Auswüchse der Verstädterung in ihrem Marktflecken. Sie spitzen den Mund und verdrehen die Augen.
»Und, in welchem Zustand ist der alte Kasten?«, fragt Ivy Walker. »Ich habe gehört, dass Frances Tyler ein wenig überstürzt gegangen ist.«
Die beiden tauschen einen Blick mit kaum wahrnehmbarem Flackern in ihren Augen aus. Bridget registriert ihn erst im letzten Moment.
»Nicht gerade toll«, antwortet sie. »Offensichtlich ist sie abgereist und hat alles stehen und liegen lassen.«
»Dann werden Sie wohl sehr viel zu tun haben.«
»Hmmm. Na ja, dafür werde ich schließlich bezahlt.«
»Wie wahr«, sagt Ivy. »Er war hier und hat versucht, jemanden zu finden, der vor Ihrer Ankunft Ordnung schafft. Hat vermutlich kein Glück
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