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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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alles so einfach sein, denkt sie. Hier, an unserem Zufluchtsort: Wir müssen nur ehrliche Arbeit für ehrlichen Lohn leisten und die Freuden des einfachen Lebens genießen. Es ist wunderbar. Fast himmlisch. Wie konnte ich nur so lange leben, ohne mir darüber klar zu werden, dass ein pochiertes Ei der Beweis ist, dass es tatsächlich einen Gott gibt? Die Eier, von freilaufenden Hühnern, haben Dotter, die größer und gelber sind als alles, was sie, so weit sie sich erinnert, je in London gesehen hat. Sie zerbrechen unter ihrem Messer, tropfen in goldenen Punkten perfekt auf den Toast, sickern ein. Bridget nimmt einen Schluck von ihrem Tee, schneidet sich eine Ecke vom Toast ab, verstreicht das Eigelb und steckt sich das Ganze in den Mund. Schließt die Augen und unterdrückt ein erstauntes, freudiges Stöhnen. Ihr kommt es vor, als erwache sie langsam aus einem langen tiefen Schlaf. Plötzlich nimmt sie Dinge um sich wahr – Essen, Farben, Wärme und Kälte –, gegen die sie glaubte, möglicherweise für immer unempfänglich geworden zu sein.
    Es gibt ein Sprichwort – aus Spanien, glaubt sie –, das besagt: »Ein in Angst verbrachtes Leben ist nur ein halbes Leben«, und sie meint, allmählich die ganze Wahrheit dahinter zu begreifen. Das Leben mit Kieran – die Angst, der ständige Eiertanz, der vorsichtige Umgang mit Wörtern, Blicken und Taten, um zu verhindern, dass eine neue Runde der Bestrafungen beginnt – war ein Leben in Schwarz und Weiß und Grauschattierungen. Sie hat nie gewagt, die Farben zu kosten, die Wärme zu sehen und Musik zu fühlen.
    Ich hatte nie auch nur eine Sekunde für mich, selbst wenn er nicht da war, überlegt sie. Es wäre undenkbar gewesen, einfach so dazusitzen und diesen Moment zu genießen, wenn ich wüsste, dass er jeden Augenblick durch die Tür kommen könnte, mich untätig antrifft, wütend wird. Es ging ums nackte Überleben, denkt sie: Das war kein Leben. Sie schneidet sich noch ein Stück Brot ab, macht die Augen zu und genießt den salzigen, fettigen Geschmack.
    »Ich kann nicht schlafen.«
    Bridget schlägt die Augen auf. Yasmin – im pinkfarbenen dicken Schlafanzug, den abgewetzten alten Plüschaffen gegen die Brust gepresst – steht barfuß in der Tür, die Haare zerzaust, die Augen groß und braun.
    »Tut mir leid, Baby. Hab ich dich geweckt?«
    Yasmin reibt sich müde mit der Faust über die Nasenwurzel.
    »Ich weiß nicht«, stellt sie fest. »Ich glaub, ich bin schon die ganze Zeit wach. Was isst du da?«
    »Eier. Willst du was?«
    »Igitt«, antwortet Yasmin, »Eier.« Sie verzieht das Gesicht und streckt die Zunge heraus. »Nein, danke.«
    »Gar nicht igitt«, sagt sie. »Eier sind wunderbar. Vor allem auf Toast.«
    »Eklig«, entgegnet Yasmin unmissverständlich. Gestern hat sie ohne einen Mucks drei Schalen selbst gemachten Vanillepudding ausgelöffelt. Das Rätsel der ständig wechselnden Vorlieben von Kindern wird wohl nie gelöst werden.
    »Ich bin beinahe fertig«, sagt Bridget, »dann bringe ich dich wieder ins Bett.«
    »Ich will nicht«, antwortet Yasmin.
    »Doch«, beharrt Bridget, »es ist Schlafenszeit. Schon längst.«
    »Kann ich nicht zu dir kommen?«
    »Nein, Schatz. Du hast jetzt dein eigenes Zimmer. Und da schläfst du auch.«
    »Ja, aber«, sagt Yasmin.
    »Nichts aber«, entgegnet Bridget. »Du bist jetzt ein großes Mädchen. Du willst doch sicher in deinem eigenen Zimmer schlafen, oder etwa nicht? Nur Babys wollen bei den Erwachsenen schlafen.«
    Yasmin sieht aus, als sei sie hin und her gerissen. Die Anspielung, wie groß sie doch ist, funktioniert immer. Bis zu einem gewissen Punkt. Ihre Freude darüber, jetzt ein Zimmer für sich allein zu haben, hat offensichtlich einen harten Kampf mit der Erinnerung an all die kuscheligen Nächte bei ihrer Mutter auszufechten. Bridget wusste ja im Voraus, dass diese Trennung schwierig werden würde. Sie ist sogar erstaunt, dass Yasmin schon sechs Nächte mitgespielt hat.
    Yasmin runzelt die Stirn. »Ja, aber wenn ich nicht schlafen kann, dann bin ich morgen müde, und das gefällt dir dann auch nicht«, droht sie.
    Bridget schiebt sich den letzten Bissen ihres Mitternachtsmahls in den Mund, kaut ein paar Mal und spült ihn dann mit dem Rest des Tees hinunter. Es ist Zeit, konsequent zu sein. Wenn ich weiter mit ihr herumdiskutiere, dann glaubt sie noch, es bestehe Spielraum für Verhandlungen. »Ja«, sagt sie und streckt die Hand aus, »und du weißt, dass morgen die ersten Gäste kommen. Und das

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