Das Haus der verlorenen Kinder
schockiert sie.
Ich könnte glücklich sein.
Der Gedanke beunruhigt und betört sie zugleich, so wie die erste Erfahrung sexueller Anziehung junge Leute fasziniert. Sie bleibt wie angewurzelt stehen, starr vor Angst und überschwänglicher Freude. Blickt verwirrt um sich, als habe sie Angst, jemand könnte den Gedanken mitbekommen haben.
Mein Gott, ich könnte glücklich sein.
Das ist zu viel. Zu viel für ihr untrainiertes Gehirn.
Lily setzt sich in Bewegung, rennt den Hügel hinunter. Aber während sie rennt, spürt sie den Wind, spürt sie die Erde unter ihren Füßen, spürt, wie sich die Erde um ihre Achse dreht, und der Gedanke kehrt zurück.
Ich könnte glücklich sein: Es könnte alles gut werden. Ich könnte …
Hugh ist zu Hause. Darauf ist sie nicht vorbereitet, hat ihn hier nicht erwartet. Natürlich ist er zu Hause. In Eton beginnen die Ferien genau wie in allen anderen Schulen, und für die langen Sommerferien lohnt sich schließlich die Suche nach einem Platz in einem Zug.
Er steht im Speisezimmer neben der Anrichte und hält einen Kricketschläger in der Hand. Er hat ihr den Rücken zugekehrt, aber bis sie, da sie aus der Helligkeit hereinkommt, bemerkt, dass er da ist, mit einem kurzen Schrei stehenbleibt und sich hastig zu verdrücken versucht, ist es schon zu spät. Er hat sie gehört. Er erschrickt und fährt mit einem Gesichtsausdruck herum, der eine Mischung aus Angst, Schuldgefühlen und Verachtung verrät. Und als er sieht, wer ihn da ertappt hat, verändert sich seine Miene.
O Gott, denkt sie. Er ist immer noch der Gleiche.
Sie weicht zurück, versucht, zur Tür zu gelangen und wenn möglich zu entkommen.
»Ach«, sagt er. »Du bist also immer noch da.«
Lily antwortet nicht. Blickt ihm nur ins Gesicht, bemerkt die Schadenfreude, die inzwischen davon abzulesen ist.
»Wenn du es verpetzt«, sagt er, »wirst du es bereuen.«
»Ich petze nicht«, antwortet sie reflexartig. Und dann sieht sie, was sie nicht verraten darf. Neben seinen Füßen liegt ein Kricketball auf dem Boden – hartes, abgewetztes Rindsleder, der Faden, mit dem er zusammengenäht ist, ausgefranst –, und die Scherben von einem halben Dutzend Figurinen. Das strenge Gesicht des Herzogs von Wellington starrt zu ihr hinauf, das böse halbe Gesicht von Königin Victoria, das tragische Gehabe von Nell Gwyn, die noch immer graziös eine Orange in ihrer Hand hält, der Korb liegt jedoch einen Meter entfernt.
Und dann sieht sie etwas anderes über sein Gesicht huschen. Einen Gedankenblitz. Schleißlich fällt er freudig eine Entscheidung.
O mein Gott. Jetzt bin ich geliefert.
»Mummy wird sehr, sehr wütend sein«, sagt er.
Wieder antwortet sie nicht.
Er kommt auf sie zu. »Es wäre besser für dich«, sagt er, »wenn du es gleich zugeben würdest. Ich weiß, wie sie denkt. Sie wird natürlich wütend sein, aber was sie gar nicht ausstehen kann, ist, wenn man lügt.«
Er kommt auf sie zu, und sie schließt die Augen.
20
Sie sind spät dran. Die Gemeinde hat schon angefangen, »Die Hirten auf dem Felde« zu singen. So viel zum entspannten Leben auf dem Lande. In London fängt jede Veranstaltung aus Rücksicht auf die U-Bahn-Verbindungen mit mindestens zehn Minuten Verspätung an.
Alle werden uns angaffen.
Sie bleibt unter dem überdachten Friedhofstor stehen, macht beinahe wieder kehrt. Dann denkt sie: Nein, das ist richtig. Ich werde Teil dieser Gemeinde werden, koste es, was es wolle. Yasmin an der Hand haltend, hastet sie weiter den Friedhofsweg entlang.
Yasmin schaut mit offenem Mund zu dem dunklen, gedrungenen, typisch angelsächsischen Turm hinauf. »Warum sind wir hier? Sag’s mir noch mal.«
»Wir gehen in die Messe«, erklärt Bridget. »Das machen die Leute auf dem Land an Weihnachten. Sie gehen in die Kirche.«
Verdammtes Minderheitengesetz. Kein kleines Jesuskind in einer Krippe, aus Angst, man könnte die Minderheiten beleidigen. Daran hätte ich früher denken sollen, anstatt mir Gedanken zu machen, wie ich die Geschenke bezahle. Sie wird nicht ein einziges dieser Lieder kennen. Ich erinnere mich ja selbst kaum an die Texte.
»Und, was macht man in der Kirche?«
»Man betet. Spricht mit Gott. Und singt. Und dann hören alle dem Mann in dem Gewand zu, wenn er seine Predigt hält, wie man sich die Bedeutung des Weihnachtsfests in Erinnerung ruft.«
»Und was ist, wenn ich die Wörter nicht kenne?«
»Das macht nichts«, antwortet Bridget. »Beweg einfach den Mund. Und hör zu …«
Sie geht
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