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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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genauer hinsieht, ist er bunt: schwarz und blau und grün, und der Stamm ist nicht braun, wie kleine Kinder ihn immer malen: Er ist grau und silbern, und auch Gelb ist dabei: lange Streifen an einer Seite. Und die anderen Leute bemerken diese Sachen nicht, aber ich, und deshalb bin ich besser als sie.
    Sie bleibt an der Kreuzung stehen, wo die Straße von Meneglos auf die nach St. Mabyn trifft, biegt auf der anderen Seite auf den unbefestigten Weg ein, der zwischen Ackerland hindurch nach Rospetroc hinunterführt. Der Weizen steht kniehoch. Er wiegt sich im Wind, während sie zu ihrem Ziel hinabblickt. Lily nimmt sich Zeit, um das Band, das ihre Urkunde zusammenhält, zu lösen, sie aufzurollen und noch einmal einen Blick auf den Beweis ihres Triumphs zu werfen. Sie kann das Geschriebene kaum lesen – Mrs Carlyon sagt, dass sie unheimlich schlecht im Lesen ist –, aber sie kann die Wörter »Erster Preis« entziffern, die oben in gestochener Handschrift in dem rundum laufenden Rand stehen, und ihr Name ist sorgfältig in Tusche geschrieben. Lily Rickett. Das bin ich. Die Preisträgerin Lily Rickett.
    Und ich werde richtig gut werden, und der Krieg wird nächstes Jahr zu Ende gehen, und dann kann ich mich davonschleichen, wenn gerade keiner hinschaut. Ich werde weit, weit weggehen, wo mich niemand kennt, und ich werde irgendwo ein kleines Cottage finden, mitten auf dem Land, wo sonst niemand wohnen will, und ich werde zeichnen und zeichnen, malen und malen, und die Leute werden kommen. Sie werden kommen. Sie werden von mir hören, und sie werden kommen und sich meine Bilder anschauen, und sie werden mir Geld geben, und alles wird anders sein als früher. Und ich werde berühmt sein, und dann werden mich alle kennenlernen wollen. Und wenn ich reich bin, dann gehe ich zurück. Ich gehe nach Portsmouth zurück und suche meine Mum, und ich werde es ihr zeigen. Ich werde ihr meine guten Kleider und mein Auto und meine Schuhe vorführen, und sie wird mich wahrscheinlich nicht einmal erkennen, bis ich ihr sage, wer ich bin. Und sie wird dort im Pub sitzen, und ich werde einfach hereinspazieren und …
    Sie rollt die Urkunde mit größerer Sorgfalt zusammen, als sie je auf ein anderes ihrer Besitztümer verwendet hat, verknotet das Band und setzt ihren Weg fort. Nach ein paar Schritten kickt sie sich die Schuhe von den Füßen – durch die Löcher in den Sohlen sind sie seltsamerweise unbequemer, als wenn sie barfuß läuft – und geht am Wegrand weiter.
    Stell dir bloß vor. Es wird ihnen allen leid tun, dass sie nicht meine Freunde geworden sind. Sie werden sagen, dass sie einmal mit mir zusammengelebt haben. Mit Lily Rickett. Wir waren während der Bombardierungen evakuiert. Jetzt wünsche ich, ich wäre damals netter zu ihr gewesen. Ich habe sie neulich auf der Straße gesehen, und sie hat mich nicht einmal erkannt. Ted und Pearl und Vera und Geoffrey: Die halten sich für etwas Besseres und reden nicht mit mir, Pearl, die die ganze Zeit heult, und Geoffrey, der allen erzählt, ich würde die anderen mit irgendwas anstecken. Und eines Tages werde ich ihm auf der Straße über den Weg laufen, und dann wird er mich sehr wohl kennen wollen. Und ich werde ihn einfach anschauen, das Kinn recken und sagen: Nein. Ich kann mich nicht an dich erinnern. Wer, sagst du, bist du noch einmal?
    Das Gras ist weich, kitzelt, und die Erde darunter ist vom Regen der letzten Nacht noch ganz feucht. Ich mag den Geruch hier, denkt sie. Er ist ganz anders als der in Portsmouth. Keine Kohlenöfen und Klebstofffabriken oder Öllachen. Kein Pilzgeruch im Schlafzimmer oder der Gestank von Scheiße im Hof. Kein Geruch von Zigaretten oder von Portwein mit Zitrone, wenn sie mit irgendeinem Typen hereinkommt, mich aus meinem schönen warmen Bett wirft, damit sie Geräusche wie ein Tier von sich geben kann, und dann dieser Geruch, wenn sie mich wieder hereinlässt: nach Salz und saurer Milch und Schweiß …
    Lily bleibt stehen und atmet tief ein. Für sie riecht es nach Farben: Die Luft auf dieser Seite des Hügels riecht nach Grün und Braun und Gold, mit etwas Weichem und Dunklem, das die Brise vom Moor heranweht. Sie gräbt mit dem Zeh in die weiche, lockere Oberfläche eines Maulwurfshügels, spürt einen vergnüglichen Schauer angesichts der kühlen, schleimigen und doch bröseligen Konsistenz. Und plötzlich schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf, auf den sie, so weit sie weiß, noch gar nie gekommen ist. Er trifft sie völlig unvorbereitet,

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