Das Haus der verschwundenen Jahre
sonst«, sagte Wendell. »Ist schließlich jeden Abend.«
Harvey ließ sich mit einem Plumps neben Wendell fallen, schraubte die Limonadenflasche auf und fing an, die Comic-Hefte durchzublättern. Vielleicht hatte Wendell recht, dachte er beim Durchblättern und nahm ab und zu einen Schluck.
49
Vielleicht war es wirklich viel zu heiß zum Denken. Und egal wie dieser Ort voller Wunder funktionierte, echt genug wirkte er jedenfalls. Die Sonne war heiß und die Limonade kalt, der Himmel blau und das Gras grün. Was brauchte er mehr zu wissen?
Mitten im Nachdenken mußte er eingenickt sein, denn als er mit einem Ruck erwachte, merkte er, daß ringsum auf dem Boden keine Sonnenflecken mehr tanzten und Wendell nicht mehr neben ihm las.
Er streckte die Hand nach seiner Limonade aus, aber die Flasche war umgefallen, und der süße Geruch hatte Hunderte von Ameisen angelockt. Sie krabbelten daran herum und in die Flasche hinein, und viele ertranken wegen ihrer Gier.
Als er aufstand, spürte er den ersten richtigen Luftzug seit Mittag, und ein Blatt mit welkem Rand trudelte herunter und landete zu seinen Füßen.
»Der Herbst«, murmelte er vor sich hin.
Da stand er nun unter den knarrenden Ästen und sah zu, wie der Wind die Blätter herunterschüttelte. Bis zu diesem Augenblick hatte er den Herbst immer für die traurigste Jahreszeit gehalten. Er bedeutete, daß der Sommer vorbei war und die Nächte wieder länger und kälter wurden. Aber als sich jetzt das Blättergeriesel in einen wahren Sturzbach verwandelte und Bucheckern und Kastanien nicht mehr einzeln herunterplump-sten, sondern zur Erde prasselten, mußte er laut lachen, weil er sah und hörte, wie der Herbst kam. Und als er aus dem Baum-schatten ins Freie rannte, hatte er Blätter im Haar und auf dem Rücken, und bei jedem Schritt schleuderte er sie hoch in die Luft.
Als er die Veranda erreichte, krochen die ersten Wolken dieses Nachmittags über die Sonne. Und das Haus, das in der Mittagshitze wie ein Trugbild geflirrt hatte, wirkte nun plötzlich bedrohlich, dunkel und massig.
»Du bist ja echt«, sagte er, während er heftig keuchend auf 50
der Veranda stand. »Bist du doch, oder?«
Dann mußte er über seine eigene Dummheit lachen. Er hatte sich mit einem HAUS unterhalten. Doch das Lachen verging ihm, als eine Stimme Antwort gab. Aber so leise, daß er kaum sicher war, sie gehört zu haben.
»Was glaubst denn du, mein Kind?«
Er suchte nach dem Sprecher, aber weder auf der Türschwelle noch draußen auf der Veranda und auf den Stufen hinter ihm war jemand.
»Wer hat das gesagt?« wollte er wissen.
Aber er bekam keine Antwort, worüber er eigentlich ganz froh war. Und er redete sich ein, daß es gar keine Stimme gewesen sei. Nur die Bohlen hätten unter seinen Füßen geknarrt oder dürre Blätter im Gras geraschelt. Aber als er dann das Haus betrat, klopfte sein Herz doch ein wenig schneller, und er schärfte sich im Gehen ein, daß Fragen hier nicht willkommen waren.
Außerdem, dachte er, was würde es denn ändern, ob dieser Ort echt oder nur ein Traum war? Er fühlte sich echt an, und nur das zählte.
Damit gab er sich zufrieden. Und er rannte durchs Haus in die Küche, wo sich der Tisch unter Mrs. Griffins Köstlichkeiten bog.
51
52
VI
Sichtbar und Unsichtbar
» N a?« meinte Wendell beim Essen, »wie verkleidest du dich heute abend?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte Harvey. »Als was gehst du denn?«
»Als Henker«, erwiderte Wendell grinsend. »Ich hab’ schon mal gelernt, wie man Schlingen knüpft. Jetzt muß ich mir nur noch jemanden zum Aufhängen suchen.« Er musterte Mrs.
Griff in. »Geht ganz schnell«, versicherte er. »Du läßt ‘se bloß fallen und – knack! -ist das Genick durch!«
»Das ist ja schauderhaft!« rief Mrs. Griffin. »Warum reden Jungen bloß so gern über Geister, Morde und Hinrichtungen?«
»Weil’s aufregend ist«, sagte Wendell.
»Ihr seid richtige Monster«, meinte sie mit einem Anflug von Schmunzeln. »Genau das seid ihr – Monster.«
»Harvey ist eins«, sagte Wendell. »Ich hab’ gesehen, wie er seine Zähne gefeilt hat.«
»Haben wir Vollmond?« fragte Harvey und zuckte mit seinem ketchupverschmierten Mund. »Hoffentlich. Ich brauche Blut … frisches Blut.«
»Gut«, meinte Wendell, »du kannst als Vampir gehen. Ich häng ‘se auf und du kannst ‘se dann aussaugen.«
»Schauderhaft«, warf Mrs. Griffin nochmals ein. »Wirklich schauderhaft.«
Vielleicht hatte das Haus Harveys
Weitere Kostenlose Bücher