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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Speichel, und Eier bildeten die Augen.
    »Wendell!« brüllte er und kehrte der Hinrichtungsszene den Rücken zu.
    Wendell stand hinter dem funkensprühenden Feuerwerk und 59

    grinste von einem Ohr zum anderen. Er sah wie ein kleiner Dämon aus, der gerade dem Inferno entstiegen war. Und neben ihm lag die Leiter, deren Sturz das ganze Drama eingeleitet hatte.
    »Hab’ dich ja gewarnt!« rief er und hielt seine Maske hoch.
    »Hab’ doch gesagt, daß ich heut nacht ‘nen Henker spielen werde!«
    »Das wirst du mir büßen!« sagte Harvey. Als Jux konnte er die Geschichte immer noch nicht betrachten, dafür klopfte sein Herz viel zu schnell. »Ich schwör’s dir … das zahle ich dir heim!«
    »Versuch’s nur!« krähte Wendell. Das Feuerwerk brannte allmählich nieder, und die Schatten um sie herum wurden wieder tiefer. »Hast du genug von Halloween heut nacht?«
    fragte er.
    Harvey konnte es gar nicht leiden, wenn er eine Niederlage eingestehen mußte. Dennoch nickte er finster, schwor sich aber im stillen, bei nächster Gelegenheit gründlich Rache zu nehmen.
    »Komm, lach drüber«, meinte Wendell, während der Funkenregen immer schwächer wurde. »Wir sind schließlich im Haus der Ferien.«
    Das Licht war fast verschwunden, und Harvey war noch immer stinksauer auf Wendell (und auf sich selbst, weil er so ein Einfaltspinsel gewesen war). Trotzdem: Er konnte das Feuer nicht erlöschen sehen, ohne wieder Frieden geschlossen zu haben.
    »Na schön«, sagte er und gestattete sich ein winziges Lä-
    cheln. »Es wird noch andere Nächte geben.«
    »Immer«, sagte Wendell. Die Antwort gefiel ihm. »Genau so ist das hier«, sagte er, während das Licht endgültig erlosch,
    »denn dies ist das Haus der immer wiederkehrenden Zeit.«
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VII
Ein Geschenk aus
    der Vergangenheit

    A ls sie wieder ins Haus kamen, wartete dort ein Feuerwerks-festmahl auf sie.
    »Du siehst ja ziemlich angeschlagen aus«, entfuhr es Mrs.
    Griffin, als sie Harvey genauer musterte. »Hat Wendell wieder mal seine fiesen Tricks ausgespielt?«
    Harvey gab zu, auf jeden einzelnen davon hereingefallen zu sein. Aber einer hätte ihn besonders beeindruckt.
    »Und welcher war das?« fragte Wendell mit einem selbstge-fälligen Grinsen. »Der mit der umgestürzten Leiter? Die Idee war wirklich clever, nicht wahr?«
    »Nein, nicht der mit der Leiter«, sagte Harvey.
    »Was dann?«
    »Das Ding am Himmel.«
    »Ach das …«
    »Was war das eigentlich? Ein Drache?«
    »Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderte Wendell.
    »Was war’s denn dann?«
    »Ich weiß nicht«, meinte Wendell. Sein Lachen war wie weggewischt. »Besser, man fragt nicht, hm?«
    »Aber ich möchte es wissen«, beharrte Harvey und wandte sich an Mrs. Griffin. »Es hatte Flügel, und meiner Meinung nach war es vom Dach aufgeflogen.«
    »Dann war es eine Fledermaus«, meinte Mrs. Griffin.
    »Nein, das Ding war hundertmal größer als eine Fledermaus.«
    Harvey breitete die Arme aus. »Mit großen, schwarzen Flügeln.«
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    Bei Harveys Worten runzelte Mrs. Griffin die Stirn und sagte:
    »Das hast du dir nur eingebildet.«
    »Habe ich nicht«, protestierte Harvey.
    »Warum setzt ihr euch nicht hin und eßt?« antwortete Mrs.
    Griffin. »Wenn’s keine Fledermaus war, dann war’s eben überhaupt nichts.«
    »Aber Wendell hat’s doch auch gesehen. Stimmt’s, Wendell?« sagte Harvey und wandte sich dem anderen Jungen zu, der eine dampfende Portion Truthahn mit Preiselbeersoße in sich hineinschaufelte.
    »Wen juckt’s?« meinte Wendell und kaute weiter.
    »Du sollst ja nur zugeben, daß du’s gesehen hast.«
    Wendell zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hab ich’s, vielleicht auch nicht. Schließlich ist heut nacht Halloween, und da gehen draußen bekanntlich Schreckgespenster um.«
    »Aber doch keine echten«, sagte Harvey. »Ein Trick, das ist eine Sache, aber wenn dieses Untier echt war …«
    Kaum hatte er es ausgesprochen, fiel ihm ein, daß er damit die Regel gebrochen hatte, die er für sich selbst draußen auf der Veranda aufgestellt hatte: Es war egal, ob das geflügelte Wesen echt war oder nicht. Dies hier war ein Ort der Illusionen. Wäre es da nicht besser, wenn er aufhören würde, ständig nachzufra-gen, was echt war und was nicht?
    »Setz dich und iß«, forderte Mrs. Griffin ihn noch einmal auf.
    Harvey schüttelte den Kopf. Ihm war der Appetit vergangen, und er war wütend. Allerdings wußte er nicht so recht, auf wen.
    Vielleicht auf Wendell, weil er mit den

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