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Das Haus der verschwundenen Jahre

Das Haus der verschwundenen Jahre

Titel: Das Haus der verschwundenen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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allein.«
    »Wirst nicht lang bleiben«, meinte Wendell und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.
    Eigentlich hatte Harvey eine recht gute Vorstellung davon, wo sich der See in etwa befand, aber auf dieser Hausseite wuchsen so dichte Dornenbüsche, daß es Minuten dauerte, bis er einen Weg hindurch fand. Als dann endlich der See auftauchte, stand ihm klammer Schweiß auf Gesicht und Rücken und seine Arme waren von den Stacheln blutig gekratzt.
    Wie Wendell vorhergesagt hatte, war der See nicht der Mühe wert. Groß war er – so groß, daß man das entgegengesetzte Ufer kaum sah –, aber auch düster und eintönig. Eine grüne Schleimschicht bedeckte den See und die dunklen Steine ringsum, und eine Myriade Fliegen summte auf der Suche nach einer verrotteten Mahlzeit herum. Vermutlich konnten sie problemlos wahre Festgelage feiern, denn dies war der passende Ort für tote Dinge.
    Er wollte schon wieder gehen, da sah er aus dem Augenwinkel, wie sich etwas im Schatten bewegte. Irgend jemand stand weiter weg am Ufer, fast verdeckt vom dichten Gestrüpp. Er ging ein paar Schritte näher an den See heran und sah, daß es Lulu war. Sie hockte auf den schleimigen Steinen direkt an der Wasserkante und starrte in die Tiefe.
    Harvey hatte Angst, sie würde erschrecken, und so sagte er beinahe im Flüsterton: »Sieht kalt aus.«
    Mit einem zutiefst verwirrten Gesichtsausdruck schaute sie zu 47

    ihm hoch, dann drehte sie sich wortlos um und machte sich durch die Büsche auf und davon.
    »Warte!« rief Harvey und rannte Richtung See.
    Aber Lulu war bereits verschwunden. Nur noch das Unterholz zitterte leise nach. Wahrscheinlich wäre er ihr nachgelaufen, aber plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
    Blasen stiegen im See auf. Und da sah er sie, direkt unter dem schmierigen Belag – die Fische. Sie waren fast so groß wie er, hatten fleckige, verkrustete Schuppen und wandten ihre hervorquellenden Augen zur Oberfläche wie Gefangene in einer Wasserhölle.
    Er war sich ganz sicher, daß sie ihn beobachteten, und ihr Blick verursachte ihm eine Gänsehaut. Ob sie wohl Hunger hatten und zu ihren Fischgöttern beteten, er möge auf den Steinen ausrutschen und hineinfallen? Harvey grübelte. Oder wünschten sie sich, er würde mit Leine und Angel kommen, sie aus der Tiefe ziehen und ihrem Jammerdasein ein Ende setzen?
    Was für ein Leben, dachte er. Keine Sonne, die sie wärmte.
    Keine Blumen, um daran zu riechen. Nichts zum Spielen. Nur immer im tiefen, dunklen Wasser Kreise ziehen – herum und herum und herum.
    Ihm wurde schon vom Zuschauen schwindlig. Er bekam Angst, daß er sein Gleichgewicht verlieren und ihnen Gesellschaft leisten würde, wenn er noch länger da bliebe. Deshalb drehte er dem See den Rücken und atmete erleichtert auf. Dann kehrte er, so schnell es die Dornenzweige erlaubten, ins Sonnenlicht zurück.
    Wendell saß noch immer unter dem Baum. Neben ihm im Gras lagen zwei Flaschen mit eisgekühlter Limonade. Als Harvey näherkam, warf er ihm eine davon in hohem Bogen zu.
    »Na?« fragte er.
    »Du hattest recht«, antwortete Harvey.
    »Niemand, der noch richtig tickt, geht dorthin.«
    »Ich habe Lulu gesehen.«
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    »Was hab’ ich dir gesagt?« krähte Wendell. »Niemand, der noch richtig tickt.«
    »Und diese Fische –«
    »Tja, weiß schon«, sagte Wendell und verzog das Gesicht.
    »Häßliche Glitschviecher, stimmt’s?«
    »Warum hält sich Mr. Hood solche Fische? Ich meine, wo doch alles andere so schön ist, die Wiesen, das Haus, der Obstgarten …«
    »Wen juckt’s?« meinte Wendell.
    »Mich«, sagte Harvey. »Ich möchte über alles Bescheid wissen, was mit diesem Ort zusammenhängt.«
    »Warum?«
    »Damit ich es meiner Mama und meinem Papa erzählen kann, wenn ich wieder heimkomme.«
    »Heim?« fragte Wendell. »Wer will das schon? Hier bekommen wir doch alles, was wir brauchen.«
    »Trotzdem wüßte ich gern, wie das alles funktioniert. Gibt es eine Art Maschine, die die Jahreszeiten ändert?«
    Wendell deutete durch die Äste zur Sonne hinauf und sagte:
    »Hältst du das da vielleicht für künstlich? Harvey, sei doch kein Esel. Das ist alles echt. Zwar Zauberei, aber trotzdem echt.«
    »Denkst du das wirklich?«
    »Zum Denken ist’s viel zu heiß«, antwortete Wendell. »Jetzt setz dich schon und halt die Klappe.« Er warf Harvey ein paar Comic-Hefte zu. »Blättere die mal durch und such dir ‘n Monster für heute nacht aus.«
    »Was ist denn heute nacht?«
    »Halloween, was

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